Visby: Roman (German Edition)
Beifahrertür auf. »Thank you.«
Der Fahrer sagte etwas, das sie nicht verstand, und zeigte über die linke Schulter nach hinten. »Hotel?«, fragte sie. Er zögerte, nickte, sagte »Centrs« und zeigte noch einmal in die gleiche Richtung.
»Thanks«, sagte sie zum vierten Mal, stieg aus und schlug die Tür zu. Der Lastwagen rollte an, auf die Hallen zu.
Sie hängte sich die Tasche über die Schulter und blickte in die Richtung, in die er gezeigt hatte. Dort war ein Autobahnverteiler, auf hohen Pfeilern, der die Autos auf eine hell erleuchtete Brücke schleuste. Eine düstere Straße führte unter den Rampen und Schleifen hindurch. Sie folgte ihr in ein Wohngebiet, an dunklen Holzhäusern und parkenden Autos vorbei, zu einem Platz. Einer riesigen Kirche.
Einem Hotel.
Der Portier öffnete vorsichtig, mit vorgelegter Kette. Ja, sie hätten ein Zimmer frei, sagte er nach längerem Zögern auf Englisch, blickte an ihr vorbei, befand sie offenbar für harmlos und ließ sie ein. Das Zimmer koste siebzig Euro, sagte er, während er zu seinem Pult zurückkehrte, und sie müsse eine Nacht im Voraus bezahlen oder die Summe per Kreditkarte garantieren. Sie war zu müde, um zu streiten, holte schweigend das Portemonnaie hervor, legte Adrians Kreditkarte aufs Pult und daneben einen 500-Kronen- und einen 10-Euro-Schein. »Suchen Sie sich eins von beidem aus. Die Kreditkarte gehört meinem Vater. 500 Kronen sind etwas weniger als 70 Euro. In Euro habe ich die Summe nicht.« Er zögerte, nahm die Kreditkarte und ließ sie einen Anmeldeschein ausfüllen.
Gab ihr frisches Verbandszeug für ihre Hand.
Ein kleines Zimmer. Frisch renoviert. Dunkles Holz, ein gelber Baumwollüberwurf auf dem Bett, helle Wände, ungemustert. Sobald sie sich ausgezogen hatte, löschte sie das Licht und öffnete Vorhänge und Fenster. Dann legte sie sich ins Bett, den Blick auf das bleiche Rechteck gerichtet, in den Ohren die Musik ihrer Mutter.
Cause I thought that I could.
I thought that I could.
Nach dem Frühstück ging sie zur Rezeption und erklärte, dass sie noch eine Nacht bleiben wollte. Der Portier gab ihr einen kleinen Stadtplan von Riga und zeichnete einen Kreis an die Stelle, wo das Hotel lag. Sie bedankte sich und trat ins Freie.
Ein sonniger Tag, der Himmel blass. Man roch das Meer, vielleicht auch den Fluss, es erinnerte an Århus. Auch die Möwen. Sie ging in Richtung Zentrum, an riesigen Markthallen vorbei zum Bahnhof, zog an einem Automaten lettisches Geld und geriet dann auf dem Vorplatz in ein Labyrinth aus Holzbuden, Klapptischen und Bauchläden. Gedränge und Lärm, unverständliche Gespräche, Frauen in abgeschabten Kunstlederröcken und polierten hochhackigen Schuhen, zielstrebig und schnell: zwei Sätze, etwas Geld, dann trugen sie eine Plastiktüte davon, mit Gemüse oder Putzzeug oder einem Kochtopf. Sie kaufte eine Rosinenschnecke und eine Flasche Wasser und hielt unbekannte Münzen in der Hand.
Eine neue Stadt. Neue Menschen. Eine Ahnung von Freiheit, als würde jemand flüstern: Du könntest auch all deine Pläne vergessen.
Sie verließ den Platz, überquerte eine breite Straße und schlenderte durch einen Park. Fand die Straße, die sie suchte, und bog in sie ein, die Kirchtürme der Altstadt im Rücken. Stadtvillen, ein Museum und wieder ein Park, sozialistische Betonbauten, Holzhäuser und Jugendstilfassaden. Sie passierte das Haus mit der richtigen Hausnummer, wandte sich hinter einer orthodoxen Kirche nach rechts und setzte sich auf ein Mäuerchen. Aß die Rosinenschnecke, trank das Wasser und rauchte.
Es schien so einfach. Hineingehen. Nach Eglund fragen. Mit Eglund reden. Wo waren die Arschlöcher? Stand niemand Wache? Hatte man sie schon bemerkt?
War sie den Arschlöchern längst egal?
Nur ein Weg, es herauszufinden.
Sie trat die Zigarette aus, stand auf und überquerte die Straße. Das Haus war frisch renoviert und wirkte nüchtern, nur am Schmucksims unter dem Dach erkannte man, wie alt es war. Und an der Eingangstür: geschnitztes Holz. Eine Videokamera entdeckte sie nicht. Sie drückte auf die Klingel neben dem Schild Riga Consulting.
Eine Männerstimme. Unverständliche Worte. Sie rieb mit den Fingernägeln der verbundenen Hand über das Blech der Sprechanlage und sagte sehr schnell auf Deutsch: »Gibt es eine überabzählbare Teilmenge der reellen Zahlen, die in ihrer Mächtigkeit kleiner ist als die der reellen Zahlen?«
»Ka ludzu?«
Sie rieb weiter und versuchte den gleichen Satz auf
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