Visby: Roman (German Edition)
… Sie hat ihnen den Schlüssel gegeben, aber hinterher war sie sehr verärgert. Ich musste ihr versprechen, es nie wieder zu tun. Nie wieder jemand zu ihr zu schicken. Sie will von den alten Geschichten nichts hören.«
»Aber dann müsstest du den Schlüssel holen … «
»Der Schlüssel ist noch hier.« Er lässt meinen Arm los, steht auf, geht zu einem Schränkchen und kramt in einer Schublade herum. »Sie wollte damals nicht, dass die Besucher noch einmal zu ihr kommen. Deshalb haben sie den Schlüssel bei mir hinterlegt. Hier ist er.« Er hält ihn in die Höhe. »Ich rufe sie einfach an, ja, Annika?«
Ich nicke müde. Was soll ich in dem Haus: nach Fußspuren suchen? Nach einem Haar, das von Adrian stammt? Sie will von den alten Geschichten nichts hören. Es ist, als wollten mich die Götter bestrafen. Jeder schützt seine eigene heile Welt, stimmt’s, Annika? Aber kann es wirklich sein, dass ich siebenhundert Kilometer weit gereist bin und nun an den letzten paar hundert Metern bis zu Ingela scheitere?
Irgendwo draußen telefoniert Carl, vermutlich steht er an der Rezeption. Seine Stimme klingt ruhig, aber sicherlich spricht er immer so. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie es vor drei Monaten war: Ingela hört es an der Tür läuten, öffnet, und vor ihr steht eine junge Frau, Dhanavati, und möchte das Haus besichtigen, in dem sie als Kind gelebt hat.
Und ein oder höchstens zwei Wochen später klingelt dann Adrian. Aber mir wird gesagt, ich solle nicht an der Vergangenheit rühren. Ich bin nicht diejenige, die die Toten weckt, Ingela. Meinetwegen hättet ihr sie alle in Frieden ruhen lassen können.
Auf dem Schränkchen steht eine angeschlagene Tasse mit einem Sammelsurium von Stiften. Ich nehme einen Filzschreiber heraus, drehe das Foto von Adrian um und schreibe auf Deutsch: Ich möchte nur wissen, wo Adrian ist. Sonst werde ich keine Fragen stellen. Und darunter: I am looking for Adrian. That is all. Ich unterschreibe mit Annika Otten .
Als ich den Stift zurückstelle, kommt Carl wieder herein. Er lächelt mir zu. »Es ist so, wie ich es mir gedacht habe. Sie will nicht mit dir reden. Aber du darfst dir gern das Haus ansehen.«
Er hält mir den Schlüssel hin. Ich weiß nicht, welche Reaktion er erwartet hat, jedenfalls verschwindet das Lächeln, und er wirkt verlegen, vielleicht auch ein wenig verärgert.
»Danke«, sage ich rasch und stehe auf. »Vielen Dank für deine Mühe.« Ich nehme den Schlüssel und stecke ihn ein. Dann reiche ich ihm das Foto. »Wenn du sie siehst – kannst du ihr das bitte zeigen? Aber du musst sie nicht fragen, ob sie Adrian kennt. Ich weiß, dass sie ihn kennt. Sag ihr, dass ich ihn suche. Sonst will ich gar nichts von ihr. Ich möchte nur wissen, wo Adrian ist.«
DHANAVATI
Die Fähre war voll müder Fernfahrer, die Russisch oder Lettisch sprachen. Sie tranken Bier, alberten herum, saßen gähnend vor den Fernsehern, standen zu den Mahlzeiten friedlich an der Essensausgabe Schlange. Das kleine Grüppchen von Passagieren, die ohne Lkw gekommen waren, hielt sich vorsichtig im Hintergrund. Zum Abendessen gab es Braten und eine dunkelbraune, würzige Masse, die anscheinend aus Getreide und Gemüse bestand. Vor den großen Fenstern wurde die Ostsee allmählich dunkel, Leuchttürme und Schiffslaternen hingen in dunstigem Zwielicht zwischen den Reflexionen des Speisesaals.
Sie hatte einen Schlafsessel gebucht, aber der Raum, in dem die Sessel standen, war unerträglich, halbdunkel, keine Fenster. Auf dem Gang spielte ein lärmendes Grüppchen Männer irgendein Spiel, bei dem klackernde Holzsteine auf einem hochbeinigen Tisch hin- und hergestoßen wurden, eine Mischung aus Shuffleboard und Billard. Sie sah eine Zeitlang zu, trank ein Bier; versuchte sich mit zwei Männern zu unterhalten, die gerade genug Englisch sprachen, um Wo soll ich abladen? fragen zu können, kaufte dann noch zwei Flaschen Bier, bevor die Bar schloss, und setzte sich draußen auf das kleine Sonnendeck, von dem aus sie vorhin dem Einparken zugeschaut hatte. Beim Einchecken hatte man ihr eine Decke gegeben, sie wickelte sich fest hinein.
Rauchte. Trank. Hörte Musik, aber sparsam, denn der Akku des iPods war schon halb leer.
Cause I tried to find heaven, cause I thought that I could.
I thought that I could.
Als ihr doch kalt wurde, ging sie hinein und gesellte sich wieder zu den Shuffleboard-Spielern, sah eine Zeit lang zu und spielte dann mit; ungeschickt, weil sie mit der linken
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