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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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Hand nicht richtig zugreifen konnte, aber was schadete das.
    Vormittags schlief sie in einem Sessel in der geschlossenen Bar, die Füße auf dem Sims unter dem Panoramafenster. Mittags unterhielt sie sich mit einer Familie aus Deutschland, Vater, Mutter, Tochter und Schwiegersohn, die in Lettland Freunde besuchen wollten. Als sie gefragt wurde, was sie vorhatte, sagte sie, ihr Vater halte sich geschäftlich in Riga auf. Die Mutter lächelte ihr zu, für sie war die Welt wieder in Ordnung: Die junge Frau reiste zwar allein, aber sie fuhr zu ihrem Papa.
    Ihrem Papa, dem Waffenhändler.
    Nachmittags belegten Fernfahrer die Plätze ganz vorn in der Bar, sie schalteten ihre Mobiltelefone ein und stellten sie an die Panoramascheibe gelehnt auf den Sims: so weit in Richtung Heimatnetz, wie es auf der Fähre möglich war. Bis zur Kaffeezeit hatte keines geklingelt.
    Einer der Shuffleboard-Spieler hatte ihr in der Nacht angeboten, sie nach Riga mitzunehmen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn beim Abendessen unter den frisch geduschten und rasierten Männern wiederentdeckte. Als sie ihn fragte, ob sein Angebot noch galt, wusste er erst nicht, wovon sie sprach, aber dann sagte er: »Ja. Ja. Sure. Yes.« Sie müsse jedoch zu Fuß von Bord und durch die Passkontrolle gehen. Er würde sie oben an der Hafenausfahrt auflesen.
    Sie hoffte jedenfalls, dass das gemeint war.
    Die Fußgänger sollten über das unterste Wagendeck von Bord gehen. Ein enge, unendliche Treppe hinunter: Sie brauchte Minuten, bis sie den Mut dazu fand. Am Fuß der Treppe traf sie die deutsche Familie wieder, sie standen vor der Stahltür zum Wagendeck und trauten sich nicht hinaus. Aber hier zu warten war unmöglich: Sie zog die Tür auf und stieg über die Schwelle.
    Direkt vor ihr stand ein Lkw. Es stank nach Abgasen, weil alle Motoren schon liefen, die Halle dröhnte von ihrem Lärm. Sie tastete sich zwischen Lastwagen und Metallwand entlang, stieg über Ketten, zwängte sich an Außenspiegeln vorbei. Hinter ihr rief jemand, sie blickte über die Schulter und sah, wie die Mutter einen Koffer über einen Vorsprung zu zerren versuchte. Sie kehrte um und half ihr und marschierte dann weiter, den Koffer in der unverletzten Hand. Noch eine Zugmaschine, eine Wolke aus Abgasen, ein Anhänger, ein Anhänger, eine Zugmaschine – die Rampe.
    Sie stürmte hinauf und blieb erst stehen, als sie Beton unter sich hatte und die Frau erneut rief. Sie stellte den Koffer ab. Die Familie sammelte sich. Man schimpfte. Unglaublich. Ich dachte, ich sterbe. Noch einmal mache ich so was nicht mit.
    Sie ließ die vier zur Grenzkontrolle vorangehen und blieb dicht hinter ihnen, als gehörte sie dazu. Die Grenzer waren mürrisch, aber nicht gründlich, sie warfen flüchtige Blicke auf die Ausweise und gar keine auf das Gepäck. Vor der Baracke wartete ein Mann neben einem roten Opel auf die Familie. Dhanavati wünschte ihnen einen schönen Urlaub und ging weiter, die Zufahrt hinauf.
    Nach dreihundert Metern überholte sie der erste Lastwagen. Wo die Zufahrt in eine breite Straße mündete, stellte sie ihre Umhängetasche ab und drehte sich eine Zigarette. Die Lastwagen kamen in großen Abständen, höchstens zwei pro Minute. Ab und zu hupte ein Fahrer, wenn er an ihr vorbeikam, oder ließ die Scheinwerfer aufblitzen. Sie grüßte jedes Mal zurück.
    Der vierunddreißigste Lastwagen hielt.
    »Riga. Riga, meitenit. Wake up. Riga.«
    Sie riss die Augen auf. Ein leerer Parkplatz, von wenigen Laternen erleuchtet, dahinter eine Reihe von flachen Hallen. Sie schüttelte den Kopf, rieb sich das Gesicht, spähte auf die Uhr im Armaturenbrett. 23:56. Dreieinhalb Stunden Fahrt durch lettisches Flachland, von dem sie nichts gesehen hatte als Asphalt im Scheinwerferlicht.
    »Thanks. Thank you very much indeed.«
    Sie löste den Gurt. Ihr Fahrer sah so müde aus, wie sie sich fühlte. Eine Zeitlang hatten sie versucht, sich zu unterhalten, aber sein Englisch enthielt zu wenige Vokabeln, die sich auf die normalen Dinge des Lebens anwenden ließen, also hatte er schließlich Musik aufgelegt. Und sie hatte die Augen geschlossen.
    »Do you know a hotel in Riga?« Er schien sie nicht zu verstehen. Sie wiederholte: »Hotel?«
    Er hob beide Hände: Woher sollte er das wissen? Er hatte offensichtlich genug, von ihr oder von der weiten Fahrt, die ihn doch nur zu einem anderen Parkplatz geführt hatte, einer weiteren Nacht in der Fahrerkabine. Sie hob die Umhängetasche vom Boden auf und stieß die

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