Visby: Roman (German Edition)
überkocht. Nach fünf Minuten ist auch dieser Teig fertig. Er holt den Teller mit Apfelstücken, rührt sie hinein, legt ein Backblech mit Papier aus und streicht den Teig darauf glatt. Er trägt das Blech zum Tisch, streut erst den Rest Zucker-Zimt-Mischung darüber, dann die Mandeln und schiebt das Blech in den Backofen. Dann setzt er sich mir gegenüber und nimmt sich auch einen Zwieback.
»So you’re on holiday, Annika?«
Holiday. Urlaub. Sein Tonfall ist neutral, aber wir wissen beide, dass er mir ein Ja nicht glauben wird. Wer kommt schon im November nach Ljugarn, um Urlaub zu machen. Ich nehme das Foto von Adrian aus dem Portemonnaie und lege es vor ihm auf den Tisch.
»Ich suche jemand.« Ich habe lange in unserer Fotokiste gekramt, bevor ich mich für dieses Bild entschieden habe. Paula hat es beim Sommerfest auf dem Reiterhof aufgenommen. Adrian sitzt an einem Holztisch im Freien, ein Messer in der rechten Hand, eine lange Salami in der linken. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Der Wind hat ihm die unordentlichen grau-schwarzen Haare aus der Stirn geblasen, und er lacht jemanden an, der neben Paula sitzt. Nina. Daran erinnere ich mich. Er hat Nina angelacht und sie irgendetwas gefragt. Im Juni. Diesem Juni. Zweieinhalb Monate, bevor er wegging.
Carl nimmt das Foto und betrachtet es ohne Eile, nebenher trinkt er Tee. Schließlich legt er es wieder auf den Tisch. Seine Miene verrät mir nichts. »Er sieht nett aus.« Den nächsten Satz verstehe ich nicht. Carl wartet kurz und sagt dann: »Du meinst, er ist hier?«
Ich weiß es, würde ich so gern antworten. Ich weiß es, diesmal weiß ich es genau. Drei Monate lang habe ich mich geirrt, habe mich von einer alten Angst täuschen lassen. Aber diesmal bin ich sicher.
Doch ich spreche es nicht aus. Hier in dieser stillen Küche scheint die ganze Welt zuzuhören. Hellwach und feindselig bereit, auf ein Wort von mir, ein allzu zuversichtliches Wort, sämtliche Karten neu zu mischen und aus dem, was ich erraten habe, doch noch eine Unwahrheit zu machen.
»Er hat einmal hier gelebt. Vor über zwanzig Jahren. In der Nähe von Ljugarn. In einem Haus im Wald. Zusammen mit vielen anderen Menschen, vielleicht zwölf oder fünfzehn. Sie waren eine Sekte.« Ich bin nicht sicher, ob ich das richtige Wort benutze, doch das macht nichts: Er hat mich schon verstanden. Die Art, wie er plötzlich meinem Blick ausweicht, zeigt es mir. Er kennt die Geschichte, die ich erzähle. »Sie hatten ihre eigene Religion, ein Gemisch aus anderen Religionen, eine Erfindung. Sie wohnten dort, bis die Polizei einen von ihnen verhaftet hat. Er hatte mit Drogen gehandelt. Er kam ins Gefängnis. An dem Tag starb eine Frau. Die anderen gingen fort. Vor dreiundzwanzig Jahren.« Ich deute auf das Foto. »Ich glaube, er ist wieder hergekommen.«
»Warum sollte er das tun, Annika?«
Ich sehe ihn an. Ja, er kennt diese Geschichte, und er hört sie nicht gern, nicht aus dem Mund einer Fremden. Genauso würde ich reagieren, wenn jemand nach Westerkoog käme und mich über die Vorbesitzer des Reiterhofs ausfragen würde. »Du weißt, welches Haus ich meine, nicht wahr? Es gehört der Familie Eglund. Eine Frau aus dem Ort kümmert sich darum, sie hat damals dazugehört. Ingela. Sie wohnt nicht dort, das Haus steht leer, aber sie kümmert sich darum, dass es nicht verfällt. Du kennst sie, nicht wahr, Carl? Du kennst sie.«
Er blickt auf das Foto und schweigt, und wieder versammelt sich die Stille um uns. »Ist er dein Mann?«, fragt er schließlich.
»Ja.« Ich räuspere mich leise, vorsichtig. »Wir sind nicht verheiratet, aber wir leben zusammen. Seit vielen Jahren. Wir haben eine Tochter. Nina. Sie ist zwölf.«
Da entspannt sich etwas in seinem Gesicht. Vielleicht weil er an seine Enkelin denkt, seine Tochter und ihren Mann.
»Ich kenne Ingela. Du hast recht. Ich weiß auch, von welchem Haus du sprichst.« Er wirft einen Blick auf die Uhr, die über der Spüle hängt, und ich schaue ebenfalls hin. Es ist erst halb neun. Ich hätte gedacht, es müsste Mitternacht sein. »Sie arbeitet in Visby, morgen früh werden wir sie nicht erreichen. Aber ich könnte sie jetzt gleich noch anrufen und fragen, ob du dir das Haus ansehen kannst.«
»Wenn du mir sagst, wo sie wohnt … «
»Nein, Annika.« Er beugt sich vor und legt mir eine Hand auf den Arm. »Es tut mir leid. Aber sie würde nicht mit dir reden. Ich habe schon einmal Gäste zu ihr geschickt, die mich auch nach dem Haus gefragt haben
Weitere Kostenlose Bücher