Visby: Roman (German Edition)
Stille.
Stille. Schritte.
Jemand beugte sich über sie.
Zerrte an ihren Handfesseln. Nahm den Stuhl weg. Drehte sie auf den Rücken.
Ein breites Gesicht, bleich.
Schweißgeruch.
In ihr schrie es, schrie und schrie, ein kleines Kind, dem niemand half. Er sagte etwas, sie verstand es nicht, er packte sie an der Jacke und zerrte sie hoch, bis sie saß. Sie winkelte die Beine an und beugte sich über die Knie, er fasste ihr in die Haare und zog den Kopf wieder nach oben.
Goss ihr Wasser übers Gesicht.
Wasser aus einer Plastikflasche. Es brannte auf der Haut, lief kalt in ihr T-Shirt, sie wollte ausweichen, er hielt fest.
»You drink, yes?«
Er drückte ihr die Flaschenöffnung an die Lippen. Sie schaffte es, Wasser in den Mund zu bekommen, drehte den Kopf weg, spülte den Mund aus und spuckte.
Er lachte. Er tätschelte ihr die Wange. Dicke Finger – ein dicker Mann, dunkle Haare klebten an seinem Schädel. Er hielt ihr die Flasche wieder hin, diesmal trank sie, noch ein Schluck, noch ein Schluck, ihr Magen hielt stand.
Jemand rief. Der Andere. Die Flasche rutschte ab, Wasser spritzte auf ihr T-Shirt, sie drückte das Gesicht auf die Knie, geh weg, schrie das Kind, geh weg, schick ihn weg. Der Mann neben ihr stand auf und antwortete, schick ihn weg, bitte schick ihn weg.
Er zog ihren Kopf wieder nach oben. Sagte etwas. Sie verstand nichts, nichts. Er schob sein Gesicht dicht an ihres heran. »Listen. You listen?«
Sie hielt den Atem an. Nickte.
»You quiet. You okay. Understand?«
Sie versuchte etwas zu sagen. Ihre Lippen bewegten sich nicht.
Er schüttelte sie. »Quiet. You quiet. Understand?«
»I’m quiet. Yes. Don’t … « Sie hörte es selbst kaum.
Er schüttelte sie wieder. »You quiet. You okay. Okay?«
»Okay.« Etwas lauter. »Yes. Okay.«
Er ließ sie los, holte ein Taschenmesser hervor und zerschnitt den Plastikriemen um ihre Fußgelenke. Kabelbinder, dachte sie, selbst die Polizei benutzt heute Kabelbinder, wer hat das erzählt?
»Now. You get up.« Er steckte das Messer ein, packte sie von hinten an den Oberarmen und zog sie hoch.
Kalter Schweiß. Schwarze Flecken vor ihren Augen. Die Füße weit weg, den Boden spürte sie kaum. Der Mann schob, ihre Beine bewegten sich, irgendwie, er schob und hielt sie gleichzeitig aufrecht. Sie roch seinen Schweiß, über das Erbrochene hinweg, alter Schweiß, Tag für Tag übereinandergeschichtet, mit Stoff und Haaren und Haut verklebt. Er schob sie schneller voran. Zu einer Trennwand, durch eine Tür, in einen Gang voll schimmelnder Kartons. Auf eine Metalltür zu. An den Wänden hingen Schilder mit kyrillischer Schrift.
Die Tür ging auf, der Andere stand vor ihr. Angst wie ein Faustschlag in den Bauch, sie bekam keine Luft, ihre Knie fingen an zu zittern, jeder Muskel fing an zu zittern, und er sah ihr dabei zu. Er sah langsam an ihr herunter, bis zu der dreckigen stinkenden Hose, dann spuckte er ihr ein Wort entgegen und schlug zu.
Mit etwas Weichem. Es wischte ihr durchs Gesicht, der Dicke fasste danach und zog es ihr über den Kopf.
Sie sah nichts mehr. Nichts. Eine Mütze, eine Skimaske – sie sah nichts, er stieß sie vorwärts, vorwärts ins Dunkle, alles dunkel, sie bekam keine Luft, der Boden schwamm weg …
Ein Knall, und Wind fegte um ihre Beine, blies ihre Jacke auseinander. Luft kroch durch das Gewebe der Maske, Luft und ein wenig Licht. Er schob sie weiter, schneller, schneller, sie hörte ihn atmen, hörte sich atmen, schnell, flach, damit sie nicht schrie.
»Stop.«
Sie blieb stehen. Jemand packte ihre Fußgelenke, sie hoben sie hoch, alles schwankte, drehte sich, sie legten sie hin, aber die Welt schwankte weiter. Wippte und schwankte.
Plätschern. Ein Boot.
Sie wälzte sich auf den Rücken. Jemand zog die Maske nach oben.
Eine Pistole. Die Mündung vor ihrem Auge.
Sie lag still.
Er lächelte. Setzte die Mündung unter ihrem Auge auf und kratzte eine Spur in ihre Haut, um den aufgeplatzten Mundwinkel, über den Kiefer, den Hals hinunter und über den Stoff des T-Shirts bis zur linken Brust, dort drückte er den Lauf hinein, dass sie fast schrie; und ließ ihr Gesicht nicht aus den Augen.
Das Boot schwankte, der Dicke sagte etwas. Der Andere nahm die Pistole weg und warf eine Plane über sie.
Sie atmete ein. Langsam. Kontrolliert. Hielt das Würgen, das Schluchzen in Schach. Der Motor sprang an, der Boden vibrierte, kippte, kippte zur anderen Seite. Wellen klatschten. Sie fuhren, fuhren und fuhren, und sie lag
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