Vision - das Zeichen der Liebenden
gespielte Selbstsicherheit hereinzufallen. »Glaubst du wirklich, so hätte der Traum deiner Mutter ausgesehen?«, fragte er. »Dann bist du wirklich naiv. Du hast keine Ahnung – aber das ist ja nichts Neues. Und jetzt muss mein Sohn deinetwegen sterben.«
Kein Geräusch war zu hören. Jana hielt den Atem an. Sie wagte nicht, ihre nächste Frage zu stellen. Dann nahm sie allen Mut zusammen. »So schlecht geht es ihm?«
Statt einer Antwort gab Ober ein ersticktes Schluchzen von sich. Einen Moment lang vergaß Jana alles andere, der Schmerz ihres Feindes schien sie zu überrollen. »Es tut mir so leid.«
Obers Hände bohrten sich wie Krallen in ihre Schultern, erbarmungslos begannen sie, ihr Opfer zu schütteln, nur ein paar Sekunden lang, aber das reichte, um Jana in panische Angst zu versetzen. Als der Drakul-Anführer sie losließ, zitterte sie am ganzen Körper.
Ober erhob sich, mit großen Schritten lief er eine ganze Weile im Raum auf und ab, ohne seine Gefangene auch nur ein einziges Mal anzusehen.
Schließlich trat er wieder an Janas Bett, sein massiger Rücken schluckte einen Großteil des Kerzenlichts, sodass sein Gesicht im Halbschatten lag. »Du sagst, es tut dir leid.« Obers Stimme klang auf einmal so trocken und spröde wie altes Holz, kurz bevor man es zerbricht. »Gut, das akzeptiere ich. Wenn es dir wirklich leidtut, bist du aber sicher auch bereit, mir das zu beweisen. Ich brauche deine Hilfe, deshalb bin ich hier. Ich könnte dich natürlich auch einfach zwingen. Aber was würde es mir nützen? Damit es funktioniert, musst du mir wirklich helfen wollen.«
Jana wartete stumm, dass Ober weitersprach. Sie war noch immer benommen von seinem plötzlichen Gewaltausbruch und wusste, dass sie auf der Hut sein musste. Vor allem verstand sie nicht, worauf er eigentlich hinauswollte.
»Es gibt noch eine Chance für Erik. Sie ist winzig, aber ich bin bereit, alles zu versuchen. Und jetzt kommst du ins Spiel. Besser gesagt, dein Bruder. Er ist der Einzige, der uns helfen kann.«
Jana versuchte, Obers Gedankengang blitzschnell nachzuvollziehen. »Ein Tattoo?« Sie war erstaunt.
»Ja, ein Tattoo. Aber kein gewöhnliches, sondern eines, das für das Leben eines Menschen steht, für die Erfahrung eines ganzen Lebens. Es gibt bei den Medu viele begnadete Tätowierer. Aber so etwas kann nur dein Bruder.«
Jana versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Im Zwielicht konnte sie die Miene ihres Gegenübers nicht erkennen, alles, was sie sah, war das bedrohliche Funkeln seiner Pupillen. »Da macht David bestimmt nicht mit«, erwiderte sie langsam. »Er weiß genau wie ich, was du unserer Mutter angetan hast. Seitdem lebt er nur noch, um sich an dir zu rächen… Es tut mir leid, aber du wirst ihn kaum dazu überreden können, deinen Sohn zu retten.«
Ober setzte sich wieder auf die Pritsche. Ganz dicht beugte er sich über Jana. »Und wenn ich ihm genau das geben würde, was er will?« Seine weißen Zähne leuchteten in der Dunkelheit, als er seine Lippen zu einem unheilvollen Grinsen verzog. »Wenn er auf diese Weise Rache üben könnte?«
»Wie soll das gehen?«
Ober ließ sich ein paar Sekunden Zeit, bevor er weitersprach. »Mein Leben gegen das von Erik. Das ist mein Angebot. Er wird es nicht ablehnen können.«
Jana starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Das würdest du für deinen Sohn tun?«
Obers Ausdruck wurde sanfter, für einen Moment verschwanden die tiefen Falten und ließen sein vorzeitig gealtertes Gesicht wieder jünger erscheinen. »Erik ist die Zukunft unseres Klans. Ich habe tagelang überlegt, aber es gibt keinen anderen Weg, ihn zu retten. Mein Leben war lang genug, ich bin bereit zu sterben.«
Jana nickte langsam. »Ich würde dir helfen, wenn ich könnte. Aber ich bin nicht sicher, ob David genauso denkt.«
»Nicht einmal, wenn er dafür mein Leben bekommt?«
Nachdenklich erwiderte Jana Obers brennenden Blick. »David hatte ein sehr enges Verhältnis zu unserer Mutter. Er wird den Drakul nie verzeihen, was passiert ist. Und das schließt auch Erik ein. Wenn er erfährt, dass dir mehr am Leben deines Sohnes liegt als an deinem eigenen, wird er sich weigern, dir zu helfen. Er wird wollen, dass du so leidest, wie wir gelitten haben.«
Auf Obers Stirn bildeten sich zwei tiefe senkrechte Furchen. »Ihr versteht es nicht«, sagte er erschöpft. »Ich wollte nicht, dass Alma stirbt, sie hat mir einfach keine andere Wahl gelassen. Sie wollte uns vernichten und ich war gezwungen
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