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Vision - das Zeichen der Liebenden

Vision - das Zeichen der Liebenden

Titel: Vision - das Zeichen der Liebenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena , Javier Pelegrin
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aus.«
    Er zögerte kaum merklich, dann hob er die leblose Hand seines Sohnes an die Lippen und küsste sie mit geschlossenen Augen, bevor er sie sanft wieder auf die Decke gleiten ließ und zu seinem Bett zurückkehrte. »Ich bin bereit«, erklärte er, während er den Kopf auf das Kissen sinken ließ. »Ich bedaure es, dass meine letzten Worte an Almas Kinder gerichtet sind. Aber das ist wohl meine Strafe, nehme ich an.«
    Kurz darauf schloss Ober die Augen. Der Priester trat an sein Bett, fühlte den Puls und schob ein Lid hoch, um die Reaktion der Pupille zu testen. »Er ist eingeschlafen«, verkündete er, an David gewandt. »Tu, was du zu tun hast… Das Schwert liegt dort, auf der Kommode. Ich lasse euch allein, er hat mich gebeten, draußen zu warten. Ich bin im Vorraum, falls ihr noch etwas brauchen solltet.«
    Als die Tür sich hinter dem Priester schloss, tauschten David und Jana einen stummen Blick.
    »Bringst du mir die Lampe?« David zeigte auf eine kleine Tischlampe nahe am Fenster. »Ich brauche Licht.«
    »Soll ich nicht lieber die Rollläden hochziehen?«
    David stellte die Lampe, die seine Schwester ihm hinhielt, auf den Kaminsims, nicht weit von Obers Bett, und schob den Stecker in die Steckdose. »Nein, kein Tageslicht«, sagte er, während er den Satin-Morgenrock über der Brust des Drakuls auseinanderzog. »Die Lampe reicht mir.«
    Jana trat an Obers Bett und blieb am Kopfende stehen. Beklommen musterte sie den aufgerichteten blauen Drachen, der auf der Brust von Eriks Vater tätowiert war, sein ganz persönliches Tattoo, durch das er sich von allen anderen Medu unterschied. Es war ein mächtiges Motiv, das Wildheit und Sanftmut, rohe Gewalt und unbeschreibliche Schönheit miteinander verband.
    David kniete sich wortlos neben das Bett, legte den Zeigefinger auf den Schwanz des Drachen und zog Stück für Stück den Umriss des Tiers nach. An bestimmten Punkten hielt er inne, über andere eilte er hinweg, es sah aus, als führe seine Hand eine Art Tanz auf. Das Ganze wiederholte er mehrmals, erforschte jeden Millimeter des Tattoos, während seine Schwester wie gebannt zusah.
    Das einzige Geräusch im Raum war Eriks stoßweises Röcheln. Ober hingegen atmete so flach, dass man genau hinsehen musste, um zu erkennen, dass sein Brustkorb sich hob und senkte.
    Davids Zeigefinger hielt am Maul des Drachen inne, ging zu leichten Klopfbewegungen über, deren Wirkung Jana fasziniert verfolgte: Sie veränderten das Fabeltier in allen Details. Seine Augen wurden expressiver und bekamen einen Ausdruck von ironischer Melancholie. Die Schuppen schimmerten glänzender und wurden zugleich rauer. Die Krallen waren jetzt spitzer, das Maul hingegen wirkte auf einmal weniger aggressiv. Innerhalb weniger Minuten hatte sich das Aussehen des Tiers, das zu Obers ganz persönlichem Symbol geworden war, unter Davids Fingerkuppe radikal gewandelt.
    Schließlich trat David einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk mit zusammengekniffenen Augen. »Unglaublich«, sagte er. »Ich hätte nie gedacht, dass die Zeit einen Menschen so verändern kann.«
    Seine Schwester sah ihn fragend an. »Wie hast du das gemacht?«, fragte sie leise.
    David drehte sich zu ihr um. Man sah ihm an, wie viel Anstrengung ihn die magische Prozedur gekostet hatte. »Ich habe seine Haut dazu gebracht, zu mir zu sprechen«, antwortete er müde. »Ich habe in ihn hineingesehen. Jetzt ist das Zeichen viel beeindruckender, stimmt’s?«
    Jana betrachtete den neuen Drachen auf Obers Brust. Ja, er war beeindruckender als vorher, aber er wirkte plötzlich auch überraschend menschlich. An seinem Blick war ein Leiden abzulesen, das vorher noch nicht da gewesen war. Zugleich lag große Stärke in diesen Augen, aber auch Gerissenheit und Wendigkeit. Jana staunte selbst darüber, dass ein Tattoo so ausdrucksstark sein konnte. »War es das, was Ober wollte?«, fragte sie sanft.
    David nickte, ohne den Drachen aus den Augen zu lassen. »Ich glaube schon; er wollte alles an Erik weitergeben. In dieser Figur verbirgt sich eine große Energie, aber ich weiß nicht, ob sie ausreicht… Vielleicht kann nicht einmal der Drache ihn retten.«
    Obers aristokratisches, kluges Gesicht wirkte friedlich. Leben gegen Leben… Einen Moment lang hätte Jana am liebsten alles abgebrochen. Wer gab ihnen das Recht, einem Menschen das Leben zu nehmen, um es einem anderen zu geben? Selbst wenn der Erste ihr Todfeind war und der Zweite alles für sie aufs Spiel gesetzt hatte –

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