Vision - das Zeichen der Liebenden
dir nicht vorstellen, wie oft ich davon geträumt habe, ihn so zu sehen. Warum empfinde ich dann keine Freude? Warum fühle ich mich einfach nur mies?«
Jana wollte ihn gerade umarmen, als urplötzlich die Tür aufschwang und ein eisiger Wind in den Raum fegte, der die Lampen umstieß und wild an den Vorhängen des Himmelbetts zerrte.
Es ging blitzschnell. Der Wind brachte Geflüster mit, Echos von Klagen, die so alt wie die Welt zu sein schienen und innerhalb weniger Momente zu Geheul anschwollen. Jana merkte, wie sich ihr vor Angst die Härchen am ganzen Körper aufstellten. Sie war wie gelähmt. Der Sturmwind bildete einen Wirbel um Obers Bett und hob es in die Luft. Nebelfetzen, monströse Kreaturen lösten sich heraus, tanzten um den Toten herum, jagten einander nach. Das Geheul war so laut geworden, dass Jana sich instinktiv die Ohren zuhielt, aber es nützte nichts. Es war, als gellten die Schreie in ihrem Kopf weiter, sie war ihnen wehrlos ausgeliefert.
Voller Entsetzen sah sie, wie Obers Leichnam aus dem Bett gerissen und zum Fenster geschleift wurde. Sobald er verschwunden war, endete der Spuk so plötzlich, wie er begonnen hatte: Das Geheul klang ab, die Vorhänge flatterten nicht mehr. Ein Nebelwölkchen verharrte noch eine Weile auf Eriks Gesicht, wie um es zu beschnuppern. Dann verflüchtigte sich auch die letzte Spur der gruseligen Erscheinung.
Als würde sie aus einem Albtraum erwachen, blickte Jana sich um. Die Lampen lagen auf dem Boden verstreut, nur eine einzige brannte noch. Die Vorhänge an Eriks Bett waren zerfetzt, die Kommode war zerborsten, Obers Bett lag umgekippt am anderen Ende des Raums.
Es war leer. Der übernatürliche Sturm hatte Obers Leichnam mitgenommen.
»Was… was war denn das?« Die Augen ungläubig aufgerissen, starrte David zum kaputten Fenster hinüber.
Jana konnte ihm nicht sofort antworten. Sie schluckte. »Es heißt, Drakul hätte einen Pakt mit einem uralten Dämon geschlossen, um Aranox zu bekommen.« Ihre Stimme klang seltsam fremd in ihren Ohren. »Angeblich hat der Dämon das magische Schwert geschmiedet. Drakul hat ihm dafür die Seelen aller seiner Nachkommen versprochen.«
Die entsetzliche Bedeutung dieser Worte, die sie immer für eine Legende gehalten hatte, überwältigte sie.
»Zum Glück ist es vorbei«, hörte sie ihren Bruder sagen. »Ich glaube, ich hatte noch nie solche Angst.«
»Es ist nicht vorbei. Hast du es nicht gesehen?« Jana deutete auf Eriks Bett. »Ihn will der Dämon auch. Wie es aussieht, kann er es kaum erwarten, ihn mitzunehmen. Er wird wiederkommen, um ihn zu holen.«
Kapitel 3
Während der folgenden Woche verließen Jana und David Eriks Zimmer keine Sekunde. Sie schliefen hier, duschten im angrenzenden Bad und nahmen in Eriks Nähe auch das Essen zu sich, das ein finster und mürrisch aussehender Ghul ihnen dreimal am Tag brachte. Am Morgen nach Obers Tod war Harold, der Priester, aufgetaucht und hatte ihnen die Anweisungen des Verstorbenen überbracht. Seltsamerweise wirkte er kein bisschen überrascht über das Verschwinden des Leichnams, ja, er fragte nicht einmal danach.
Mit tonloser Stimme erklärte er: »Unser verstorbener Gebieter hat angeordnet, dass ihr euch um seinen Sohn kümmert, bis er wieder bei Bewusstsein ist. Verlangt, was ihr braucht, die Ghuls haben Weisung, euch in allem zu gehorchen. Allerdings dürft ihr den Raum nur mit meinem Einverständnis verlassen.«
Nach dieser Warnung zog Harold sich zurück und ließ sich nie wieder in Eriks Zimmer blicken. Jana und David fügten sich ohne Widerrede in die Situation, die sie zu Gefangenen und zugleich Ehrengästen in der Festung machte. Nach dem, was mit Ober geschehen war, war keinem von beiden danach zumute, der Außenwelt gegenüberzutreten. Hinzu kam, dass Eriks Zustand unverändert schlecht blieb. Seine Genesung war für Almas Kinder zu einer Frage der Ehre geworden.
Zunächst schützten die Geschwister den Raum mit den mächtigsten Zaubern, die sie kannten. Jana sprach alte Zauberformeln ihres Klans aus, die übersinnlichen Wesen den Zugang verwehren sollten, während David alle Wände mit unsichtbaren Zeichen versah, um böse Geister zu vertreiben. Beide wussten allerdings, dass all ihre Vorkehrungen den Dämon, der sich Obers sterbliche Überreste geholt hatte, nicht abhalten konnten, wenn er wiederkommen wollte.
Da sie in der Drakul-Festung niemandem vertrauten, beschlossen sie, sich bei Eriks Pflege abzuwechseln. Der Kranke ließ keinerlei Anzeichen
Weitere Kostenlose Bücher