Vision - das Zeichen der Liebenden
Küche und Garten zu vergessen. Was war bloß mit ihm los? Warum war seine Wahrnehmung, seit er in diesem Garten zu sich gekommen war, bis ins Unerträgliche gesteigert?
Und dann – mit einem Schlag – begriff er, dass alles zusammenhing: dass sein Geruchssinn und sein Gehör gespannt waren wie die Saiten einer Violine und auf die geringste Schwingung ansprachen; dass er es kaum aushielt, in Janas Nähe zu sein und sie nicht berühren zu können; dass er praktisch ihre Gedanken lesen konnte. Der Grund war das Tattoo. Es hatte magische Eigenschaften, auch wenn Jana das abstritt. Vielleicht war ihr aber auch wirklich nicht klar, was für eine heftige Wirkung das Zeichen auf ihn hatte. Wie sehr es ihn verändert hatte.
»Wie seid ihr überhaupt auf die Idee mit den Tattoos gekommen?«, fragte er betont beiläufig. »Das ist ja kein normaler Job…«
»Da gibt’s eine Vorgeschichte. Die Technik hat uns unsere Mutter beigebracht, eine ganz spezielle Technik, das hast du sicher gemerkt. Sie hat sie von ihrer Mutter gelernt und die wiederum von ihrer Mutter. Meine Urgroßmutter lebte als junge Frau in Neuseeland, sie hat dort die Bräuche der Maori studiert.«
»Die Frau auf dem Bild? Sie hat die Bräuche der Maori studiert, in der damaligen Zeit?«
»Sie hat ihren ersten Mann auf seinen Reisen begleitet und viel über die spirituelle Dimension von Tätowierungen gelernt und bis zu einem gewissen Punkt auch daran geglaubt. Dieses Wissen hat sie an ihre Tochter weitergegeben. Wie du siehst, ist es eine Familientradition.«
»Komische Tradition.« Alex konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Das ist ja mal was ganz anderes als Rosenzüchten oder Häkeln. Seltsam, dass Mütter ihren Kindern so was beibringen.«
»Tja, wir sind jedenfalls sehr froh darüber. Nur so kommen wir gut über die Runden. Und ich glaube, unsere Urgroßmutter wäre stolz auf uns.«
»Und die Schlange auf deinem Rücken? Ist die auch von David?«
Die Frage war ihm herausgerutscht. Der Anblick der Schlange ließ ihn einfach nicht los, er spukte zusammen mit dem Rascheln des Laubs, Janas Duft und dem Geruch des Grases, der ihm in die Nase stach, in seinem Kopf herum.
Janas Augen blitzten gefährlich auf. »Woher weißt du von der Schlange?«
»Ich hab mich in der Tür geirrt, als ich in Davids Studio wollte, und stand plötzlich in deinem Zimmer. Du warst nicht zu übersehen… Tut mir leid.«
Es tat ihm überhaupt nicht leid und Jana merkte es. Überraschenderweise lächelte sie.
»Es ist eine gute Arbeit«, sagte sie. »Eine unserer besten. Der Entwurf ist von mir, David hat ihm den letzten Schliff gegeben. Du hast bestimmt gemerkt, dass er sich bei unserer Arbeit für ›den Künstler‹ hält.«
Mit einem Mal verdüsterte sich ihre Miene.
»Es wäre mir lieber gewesen, du hättest es nicht gesehen. Ich meine, noch nicht.«
»Das heißt also, irgendwann…«
»Keine Spielchen, Alex. Die ganze Geschichte mit dem Tattoo ist ein Riesenproblem. Ich weiß, du dachtest, es würde mir gefallen. Aber die Art, wie David dich manipuliert hat… Mir wäre ein anderer Anfang lieber gewesen.«
Alex spürte, dass sie die Wahrheit sagte. Ja, die Sache mit dem Tattoo hatte Janas Pläne durchkreuzt. Sie hatte etwas anderes vorgehabt. Aber was? Vielleicht mochte sie ihn ja doch lieber, als sie zugeben wollte, vielleicht hatte David ihnen diesen Streich gespielt, um zu verhindern, dass sie sich berühren konnten, dass sie zusammenkamen. Aber hätte sie dann nicht niedergeschlagener sein müssen? Sie wirkte vor allem wütend, nicht traurig.
War sie so angespannt, weil sie darüber nachdachte, wie sie alles rückgängig machen konnte? Ließ sich der Zauber irgendwie brechen?
Der Gedanke verursachte ein seltsames Kribbeln in seinem Bauch. Ein Zauber. Ein Tattoo, das ihn verzaubert hatte… Jana war so eifrig bemüht, ihm einzureden, dass das Ganze gestern und heute nur Show gewesen war. Aber sie log. Das wusste er, er fühlte es mit jeder Faser seines Körpers. Das Tattoo hatte ihn verwandelt. Er würde nie mehr so sein wie früher. Die ganze Welt würde für ihn nicht mehr so sein wie früher.
Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte: Was gerade mit ihm passiert war, war nichts anderes als Magie.
»Vielleicht rufe ich dir jetzt besser ein Taxi und du fährst nach Hause.« Jana ging zur Küchentür, wo sie sich noch einmal zu ihm umdrehte. »Hier gibt es nicht mal einen Bus und zu Fuß brauchst du ewig. Ich geh schnell telefonieren.«
Alex
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