Vision - das Zeichen der Liebenden
sie hatte keine Zeit, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen. Zumindest behauptete sie das.
Das glatte blonde Haar fiel Laura in einem dicken Pferdeschwanz auf die rechte Schulter. Sie trug einen grünen Baumwollpulli und Jeans. Noch immer grinste sie gut gelaunt. Alex’ Ärger verflog allmählich.
»Wie lange bist du schon hier?«, fragte er und unterdrückte ein Gähnen.
»Keine Ahnung, vielleicht fünf Minuten. Dir beim Schlafen zuzugucken, ist todlangweilig, weißt du das?«
»Kann ich mir denken. Hast du deswegen den Wecker gestellt?«
Laura zuckte die Achseln.
»Glaub schon. Wo warst du letzte Nacht?«
»Ich hab dir doch eine SMS geschickt. Hast du sie nicht gekriegt?«
»Doch. Heute Morgen um vier oder fünf. Tolle Uhrzeit, um deiner kleinen Schwester eine Nachricht zu schicken!«
»Sorry. Hab ich dich geweckt? Wenn Mama ihr Handy nicht ständig ausschalten würde, hätte ich ihr geschrieben. Hast du ihr eigentlich Bescheid gesagt?«
»Wieso? Weil du nicht da warst? Sie hat nicht nach dir gefragt, Alex«, antwortete Laura. »Sie ist um zehn ins Labor, irgendeine Kultur anlegen oder so.«
Ihr Grinsen war erloschen. Sie sah älter aus, fast erwachsen.
»An einem Samstag?«
Blöde Frage. Ihre Mutter arbeitete jeden Samstag und auch jeden Sonntag. Theoretisch wurde das nicht von ihr verlangt, aber irgendwie fand sich immer ein zwingender Grund, an die Uni zu fahren. Jeder Vorwand schien ihr recht zu sein, um nicht in dem Haus bleiben zu müssen, das sie so traurig machte. Um den Erinnerungen zu entfliehen.
»Sie hat gesagt, zum Mittagessen wäre sie wieder da, aber du kennst sie ja. Nachher ruft sie an und sagt, es dauert länger und wir sollen Pizza bestellen. So wie immer.«
Alex streckte die Beine unter der Decke hervor und tastete mit den bloßen Füßen nach den weichen Hausschuhen. Seine Sinne arbeiteten wieder ganz normal, jene so heftigen Seh- und Geruchsempfindungen, die fast schmerzhaft gewesen waren, quälten ihn nicht mehr. Auch das Tattoo spürte er kaum. Aber es war noch da, auf seiner Haut. Er brauchte keinen Spiegel, um es zu wissen.
Plötzlich war er froh, dass er ein hochgeschlossenes T-Shirt trug, das den Rand des Tattoos, das David ihm auf die Schulter gezeichnet hatte, verdeckte. Er wollte lieber gar nicht erst daran denken, mit welchen Fragen Laura ihn löchern würde, sobald sie es entdeckte.
»Jetzt sag schon, wo du warst«, drängelte sie.
Alex hatte die Hausschuhe gefunden, er ging zum Fenster und zog mit einem Ruck den Rollladen hoch. Die Mittagssonne flutete in sein Zimmer, erbarmungslos beschien sie das Chaos aus Büchern und Kleidern, das sich achtlos auf den Stühlen und dem Schreibtisch türmte.
»Bei Erik«, antwortete er, während er in dem Durcheinander nach seinem karierten Hemd suchte.
»Erik hat vorhin angerufen und nach dir gefragt. Er wollte wissen, ob du gestern Nacht gut nach Hause gekommen bist. Er klang ziemlich besorgt.«
Laura blieb mitten im Zimmer stehen. Mit der kindlichen Hartnäckigkeit, die sie manchmal an den Tag legte, wartete sie auf eine Antwort. Alex schnaubte unwillig.
»Okay, ich war bei Jana«, gab er genervt zu. »Das wolltest du doch wissen, oder?«
Lauras Reaktion überraschte ihn. Sie klatschte in die Hände und quietschte vor Begeisterung. Doch zugleich glaubte er, einen Hauch von Besorgnis in ihren Augen zu sehen.
»Jana! Jana! Ich hab’s ja gewusst. Ich hab gewusst, dass du sie cool findest! Na ja, alle finden sie cool, aber das ist nicht der Punkt. Und sie? Ich hätte nicht gedacht, dass… Sie mag dich also auch! Sie hat dich zu sich nach Hause eingeladen! Dann muss sie dich wirklich gut finden.«
»Sie hat mich nicht nach Hause eingeladen, es hat sich eher so ergeben. Es war schon spät und wir waren in ihrem Viertel unterwegs. Es gab keinen Bus und kein Taxi. Das war alles.«
»Aha.« Laura glaubte ihm ganz offensichtlich kein Wort.
Sie hatte sich wieder aufs Bett gesetzt und sah ihren Bruder mit glänzenden Augen und einer fast schon rührenden Mischung aus Bewunderung und Verblüffung an.
»Jana!«, wiederholte sie staunend, wie um sich an den Gedanken zu gewöhnen. »Wenn ich das meinen Freundinnen erzähle…«
»Laura, wehe, du erzählst deinen Freundinnen davon! Das geht niemanden was an, weder deine Freundinnen noch Erik noch sonst jemanden. Zwischen Jana und mir ist noch nichts gelaufen, klar? Es war nur Zufall, es ist nichts passiert.«
»Noch nicht! Das heißt, das kommt noch. Warte mal – oder hast
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