Vision - das Zeichen der Liebenden
wartete in der Küche. Er hörte, wie ihre Schritte sich entfernten, dann vernahm er leises Gemurmel. Sie schien bei der Taxizentrale anzurufen. Sein Blick fiel auf den verschütteten Kaffee und die spitzen Porzellanscherben auf dem Boden. Ein eigenartiges Stechen durchfuhr ihn, als wäre er in einen der hauchfeinen Porzellansplitter mit den winzigen grüngoldenen Kleeblättern getreten. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild einer englischen Werkstatt, wo eine weibliche Hand dieses Muster mit den feinsten Pinseln auf das Porzellan malte. Dann eine neue Momentaufnahme: der Vorgang des Trocknens und Brennens. Und schließlich eine Frau in einer Art Glasveranda mit Meerblick, wie sie den Henkel zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und einen winzigen Teil dessen, was sie in diesem Augenblick empfand, auf die Tasse übertrug, ihr für immer einprägte, einen Schmerz, tief wie ein Riss, den nichts und niemand würde heilen können. Die Augen bedrückt, stumm auf die Wellen geheftet. Augen, die denen von Jana so ähnlich waren …
Eine Stimme ließ ihn zusammenzucken.
»In einer Viertelstunde ist es hier.« Jana lehnte im Türrahmen und betrachtete ihn. »Sie brauchen immer eine Weile, bis sie das Haus finden. Wenn du willst, warten wir hier.«
»Ich würde mich gerne noch von David verabschieden.«
Jana schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, das geht nicht. Er ist unterwegs. Hör mal, Alex, er ist noch ein Kind. Ich möchte mich für ihn entschuldigen. Vielleicht findet er die Sache mit dem Tattoo lustig – aber sie ist es nicht.«
Alex nickte. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem er eben noch beim Frühstück gesessen hatte. Bevor sich die Ereignisse überschlagen hatten. Auf dem Tisch lag der Toast, den Jana ihm serviert hatte, noch ohne Butter und inzwischen eiskalt.
Automatisch griff er danach und biss hinein.
Goldene Ähren, die sich im Wind aneinander rieben. Vor ihm erstreckte sich ein wogendes Weizenfeld in allen erdenklichen Gelbtönen, vom hellen Maisgelb bis zum reifen Gold.
Unwillkürlich hatte er die Augen geschlossen.
»Alles okay?«
Mühsam öffnete er die Augen.
»Jaja. Ich fühle mich nur…«
Er wollte sagen, dass er sich ein bisschen komisch fühlte, unterbrach sich jedoch, als er Janas Anspannung bemerkte, ihre Neugier, die vielen Fragen, die sie sich mit eisernem Willen verkniff. Er fühlte, dass sie sich Sorgen um ihn machte und dass sie in diesem Augenblick alles darum gegeben hätte, genau zu wissen, was mit ihm los war. Und genau deshalb beschloss er, es ihr nicht zu sagen. Solange sie ihre Geheimnisse vor ihm hatte, würde er eben auch das ein oder andere für sich behalten.
»Ich komme mir wie der letzte Idiot vor«, sagte er rasch. »Weil ich in die Falle mit dem Tattoo getappt bin. Ich hätte selbst nicht gedacht, dass ich mich so leicht manipulieren lasse.«
Über Janas Gesicht huschte ein Hauch von Misstrauen. Alex hatte keine Übung im Lügen, wahrscheinlich hatte seine Erklärung nicht besonders überzeugend geklungen.
Sie hörten, wie ein Auto langsam über das holprige Pflaster heranrollte. Alex stand auf. Einmal mehr kämpfte er gegen den Drang an, auf Jana zuzugehen und das Gesicht in ihr kastanienbraunes Haar zu drücken, aber Jana hatte sich schon in Bewegung gesetzt.
»Hör mal, Alex, ich habe eine Bitte. Das mit unseren Tattoos… Es wäre mir lieber, wenn du niemandem davon erzählst. Vor allem nicht in der Schule. Das geht dort niemanden was an, verstehst du? Erst recht nicht die Sache mit den magischen Tattoos.«
»Keine Angst, ich behalte es für mich.«
Sie lächelten sich an. Inzwischen waren sie an der Haustür angekommen. Draußen wartete das Taxi und es hatte keinen Sinn, den Abschied noch länger hinauszuzögern.
»Wir sehen uns dann am Montag in der Schule bei der Eröffnungsfeier«, sagte Alex. »Du kommst doch, oder?«
»Ja, na klar. Aber vielleicht sollten wir auch unsere Freundschaft, oder was das hier ist, erst mal für uns behalten. Ich weiß nicht, ob ich will, dass man uns beide zusammen sieht. Ich bin ziemlich durcheinander. Ich brauch einfach noch ein bisschen Zeit.«
Alex versuchte, in der samtweichen Dunkelheit ihrer Augen zu lesen.
»Wie du möchtest. Ich lass dir alle Zeit der Welt. Entscheide du, wann du wieder mit mir reden willst – und wo.«
Die Erleichterung in Janas Lächeln war echt.
»Danke für dein Verständnis. Ich weiß, das hattest du versprochen, aber ich hab nicht geglaubt, dass du dich wirklich daran
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