Vision - das Zeichen der Liebenden
du mit ihr geschlafen, weil es sich so ergeben hat?«
»Laura! Du bist zwölf – selbst wenn es so wäre, würde ich dir das ja wohl kaum erzählen!«
»Das heißt, du hast nicht mit ihr geschlafen.«
Alex schnaubte hilflos. Vor Laura konnte man einfach nichts geheim halten. Alles, was man sagte, war für sie genauso aufschlussreich wie das, was man nicht sagte.
»Ich mag sie echt gern, aber ich kenne sie ja noch kaum.« Er versuchte jetzt erst gar nicht mehr, gleichgültig zu wirken. »Sie ist… sie ist was ganz Besonderes.«
Laura kicherte.
»Was Besonderes! Ja, darauf kannst du Gift nehmen. Meine Freundinnen sagen, sie ist eine Hexe.«
Alex wurde wütend.
»Na ja, wenn man bedenkt, dass ihr vor ein paar Jahren noch Windeln anhattet und an den Weihnachtsmann geschrieben habt, wundert es mich nicht, dass ihr noch an Hexen glaubt…«
Er unterbrach sich, als er merkte, dass er zu weit gegangen war.
»Was hast du denn auf einmal?« Laura warf ihm einen langen Blick zu. »So reden alle über Jana, dafür kann ich doch nichts. Ich glaub ja auch nicht dran, aber… Jana hat schon was Düsteres, findest du nicht? Es ist, als ob… als ob sie einen Schatten in sich drin hätte. Ich kann es nicht richtig erklären, aber so kommt es mir vor, wenn ich sie ansehe.«
Alex’ Schulter begann zu schmerzen. Ja, er hatte es auch gemerkt, dort im Garten, als er das Knirschen der Erde unter den Beinen der Ameisen und das Rascheln des Laubs gehört hatte: Von Jana war eine Düsternis ausgegangen, die drohte, alles zu verschlingen, was sich ihr in den Weg stellte. Und dieses Gefühl war noch immer da… nur diese Wirkung des Tattoos hielt noch an, der Rest – die Schärfung seiner Sinne, die überdeutlichen Bilder – schien im Schlaf verflogen zu sein.
Aber wie konnte es sein, dass Laura Janas Aura ebenfalls wahrgenommen hatte? Sie kannte sie nur vom Sehen, hatte nie mit ihr geredet. Und doch hatte sie die Bedrohung, die Jana ausstrahlte und die für ihn nur durch die Wirkung des magischen Tattoos wahrnehmbar geworden war, erkannt.
Die Intuition seiner Schwester überraschte ihn immer wieder.
»Das ist ja auch kein Wunder, oder?« Er ärgerte sich über sich selbst, weil er Laura verheimlichte, was er wirklich dachte. »Sie hat ihre Eltern sehr früh verloren, alle beide. Dann die ganze Geschichte mit ihrem Bruder, das Gerede, als er von der Schule geflogen ist. Und außerdem sind viele von den Mädchen, die diesen ganzen Hexenquatsch rumerzählen, einfach nur neidisch auf ihr Aussehen.«
Laura nickte nachdenklich.
»Ja, da hast du recht. In der Schule gibt es viele hübsche Mädchen, aber sie ist… auf eine ganz besondere Weise attraktiv.«
»Auf ›düstere‹ Weise«, spottete Alex.
»Ja. Auf düstere Weise. Was ist jetzt eigentlich, kommst du zum Essen? Auf Mama brauchen wir nicht zu warten und die Nudeln werden kalt.«
»Du hast Nudeln gemacht? Ich dachte, wir bestellen Pizza?«
»Wir können nicht nur von Pizza leben. Das müssen wir Mama bald mal klarmachen. Also, kommst du?«
Alex, der endlich sein Hemd unter dem Laptop-Rucksack gefunden hatte, verzog bedauernd das Gesicht.
»Ich esse später was, erst will ich unter die Dusche.«
Laura schüttelte missbilligend den Kopf.
»Musst du wissen. Ich warte aber nicht auf dich. Ich will die Makkaroni nicht kalt essen.«
Sie war schon fast an der Tür, als Alex sie am Handgelenk zurückhielt.
»Sag mal, weißt du, wo Mama den Schlüssel zum Arbeitszimmer aufbewahrt?«
Laura machte sich los. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß.
»Von Papas Arbeitszimmer?«, fragte sie leise.
»Ja. Ich will ein Buch suchen und war ewig nicht da.«
Laura runzelte die Stirn.
»Bitte fang nicht wieder damit an«, sagte sie. »Jetzt, wo endlich alles halbwegs normal ist…«
Sie stockte.
»Ich soll nicht wieder damit anfangen?«, wiederholte Alex ungläubig. »Ich bin doch der Einzige, der seit der Sache mit Papa nie wieder reingegangen ist…«
»Weiß ich ja«, unterbrach ihn seine Schwester. »Genau deswegen. Jetzt, wo Mama allmählich drüber weg ist, wäre es besser, nicht alles wieder aufzuwühlen. Ich will das alles nicht noch mal erleben.«
»Jetzt übertreib mal nicht. Ich möchte nur ein Buch holen. Mama muss es gar nicht mitkriegen. Ich hinterlasse alles so, wie es war. Du weißt, wo sie den Schlüssel hat, oder?«
Laura nickte widerstrebend.
»In ihrer Nachttischschublade, in Omas Schmuckkästchen, da gibt es so ein Etui mit Ohrringen. Aber Alex, du musst
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