Vision - das Zeichen der Liebenden
wirklich aufpassen, dass sie nichts merkt.«
»Keine Angst, ich passe auf. Aber…«
Er verstummte, als er das besorgte Gesicht seiner Schwester sah.
»Was denn?«, drängte sie. »Aber…?«
»Dass sie allmählich drüber weg ist, ist gelogen, Laura. Und das weißt du genauso gut wie ich.«
Laura schlurfte voran, durch den Flur zum Zimmer ihrer Mutter.
»Wenigstens ist unser Leben jetzt ruhiger«, sagte sie. »Mach das nicht kaputt.«
»Ich mach gar nichts kaputt. Außerdem – wenn du weißt, wo der Schlüssel ist, hast du ihn auch gesucht und warst drin.«
Laura blieb stehen und wartete, bis er sie eingeholt hatte. Sie schmiegte sich kurz an seinen Arm. Dann sah sie ihn ernst an.
»Ich geh ab und zu rein, aber nicht gerne. Es macht mich traurig. Das Zimmer ist so… es ist so ganz anders als früher, als er noch da war. Du weißt doch noch, wie er war, oder?«
Alex nickte halbherzig. Natürlich konnte er sich noch an seinen Vater erinnern, allerdings nur vage und ziemlich allgemein. Die konkreten Erinnerungen waren fast alle verblasst. Als hätte der Schmerz alle Bilder ausgelöscht und nur helle Flecke an den Wänden hinterlassen.
»Er würde es nicht gut finden, dass wir sein Arbeitszimmer wie ein Mausoleum behandeln«, sagte er überzeugt. »Ihm wäre es bestimmt viel lieber, wenn wir seine Bücher lesen oder uns mal zum Schreiben an seinen Tisch setzen.«
Seine Schwester dachte über seine Worte nach.
»Ja, kann schon sein«, stimmte sie schließlich zu. »Aber es geht nicht um ihn, sondern um Mama. Sie soll nicht noch mehr leiden. Sei also bitte vorsichtig, ja?«
Alex nickte. Er sah zu, wie Laura sich aufs Bett ihrer Mutter setzte und die Nachttischschublade aufzog. Nach kurzem Suchen hielt sie ihm den Schlüssel hin. Sie gab sich Mühe, alles so zu hinterlassen, wie es gewesen war. »Gib ihn mir, wenn du fertig bist. Ich lege ihn zurück.«
Dann ging sie in die Küche, um die Makkaroni zu essen, die sie gekocht hatte, auch wenn sie nicht mehr wirkte, als hätte sie großen Hunger.
Alex blieb zögernd in der Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter stehen, in einer Hand das karierte Hemd, in der anderen den Schlüssel. Dann gab er sich einen Ruck. Mit zwei Schritten stand er im Bad, wo er das Hemd an einen Haken hängte. Blitzschnell war er wieder draußen und lief, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, zum Arbeitszimmer hinauf. Die Dusche konnte warten! Er musste sich beeilen, schließlich konnte seine Mutter heute auch früher zurückkommen.
Der Schlüssel drehte sich sanft im Schloss, die Tür schwang auf. Alex stand in dem Raum, den er früher so geliebt hatte und an den er sich noch so gut erinnern konnte.
Er hätte lieber die Rollläden hochgezogen, als das Licht anzuknipsen, aber das konnte seine Mutter von draußen bemerken, also tastete er nach dem Schalter der Stehlampe am Kamin. Er hatte Glück: Die Glühbirne funktionierte noch. Gedämpft durch den blassgelben Bezug des Lampenschirms, fiel das Licht sanft auf die Ledercouch, die beiden Sessel, den Perserteppich mit seinem komplexen geometrischen Muster, auf den Schreibtisch und die Holzregale voller Bücher, die vom Boden bis zur Decke reichten. Alex seufzte. Es würde eine Weile dauern, bis er gefunden hatte, was er suchte.
Er ging um den Schreibtisch herum zu einem der Regale. Da fiel sein Blick auf ein Schwarz-Weiß-Foto seines Vaters, das auf dem Tisch stand. Ein lächelndes Gesicht voller Leben, mit winzigen Lachfältchen um die Augen, diese großen blauen, ausdrucksstarken Augen, die seinen so sehr glichen. Eine Hand lag lässig auf der Tastatur seines Computers und er trug ein dunkel gestreiftes Hemd, das Alex ganz vergessen hatte.
Hugo Torres, der Erfolgsmensch, der Mann, der alles gehabt hatte. Attraktiv, klug, immer gut gelaunt. Es gelang ihm nicht, sich seinen Vater bei der Arbeit als Finanzberater vorzustellen, wo er sich, wie Alex einmal gelesen hatte, wie ein Hai verhalten hatte. Oder wie ein Tiger. So hatten seine Feinde ihn genannt. Einer, der auf den richtigen Moment wartete, ohne aufzufallen, möglichst unbemerkt. Dann ein gezielter Sprung, eine gewagte Entscheidung, die niemand erwartet hatte. So hatte er für seine Kunden und höchstwahrscheinlich auch für sich selbst Millionen verdient. Auch wenn es ihm nichts genützt hatte… Ein einziger Fehler hatte ein ganzes erfolgreiches Leben kaputt gemacht. Ohne Vorwarnung.
Alex biss sich auf die Unterlippe, während er sich von dem Foto abwandte und versuchte,
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