Vision - das Zeichen der Liebenden
sich auf die unzähligen Bücher vor ihm zu konzentrieren. Die Bände standen scheinbar ungeordnet in den Regalen. Wahrscheinlich hatte sein Vater seine eigene Methode gehabt, um zu finden, was er suchte. Auch wenn es bei seinem legendär schlechten Gedächtnis sicher nicht verkehrt gewesen wäre, sie zu sortieren. Aber das hatte er immer wieder kategorisch abgelehnt. Eine geordnete Bibliothek ist eine tote Bibliothek, hatte er gesagt.
Dennoch hatte Alex das Exemplar, nach dem er suchte, bald gefunden. Der Rücken aus dunkelblauem Leder mit dem im unteren Drittel eingeprägten goldenen Segelschiff stach zwischen den Büchern mit schlichten Pappeinbänden heraus wie ein wertvolles Schmuckstück. Es war kleiner als die Ausgabe, die er bei Jana gesehen hatte, aber als er es aus dem Regal nahm, stellte er fest, dass es ziemlich schwer war.
Mit dem Band in der Hand ließ er sich im Schneidersitz auf der Ledercouch nieder, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er seinen Vater nie dabei gesehen, wie er den Sternenhimmel betrachtete. Warum besaß er dann dieses Buch »Die Geschichte der Astronomie«? Hugo war ein pragmatisch veranlagter Mensch gewesen. Ein Großteil seiner Bücher beschäftigte sich mit irgendwelchen Wirtschaftsthemen oder Soziologie. Er hatte gerne Krimis gelesen und eine Unmenge davon besessen. Und natürlich Klassiker: russische und französische Romane des 19. Jahrhunderts, angelsächsische Lyrik, Theaterstücke…
Was machte dieses alte, prächtig gebundene Buch inmitten der vielen preiswerten Ausgaben? Und vor allem, warum erinnerte er selbst sich noch so genau daran? Wo doch so viele andere Erinnerungen aus seinem Gedächtnis verschwunden waren? Er schlug das Buch aufs Geratewohl auf und las ein paar Abschnitte. Es ging um die theoretische Rekonstruktion einer Sternwarte bei den alten Sumerern. Alex blätterte weiter. Besonders die Abbildungen erregten seine Aufmerksamkeit: Himmelskarten, fremdartige Sternbilder, die denen der Neuzeit in nichts glichen, Fabelwesen.
Plötzlich flatterte ein Blatt Wachspapier zwischen den Buchseiten hervor und fiel zu Boden. Er bückte sich und hob es auf. Eine ganze Weile starrte er auf das Bild auf dem Papier: Es schien mit zwei ganz normalen Kugelschreibern gemalt worden zu sein oder vielmehr hingekritzelt, denn es handelte sich um ein Gewirr von Linien, die sich teils ineinander verflochten, teils auseinanderstrebten, ohne ein erkennbares Muster zu ergeben. Die Linien waren blau und rot, im oberen Bereich des Blattes überwogen die blauen, im unteren Drittel die roten Linien, in der Mitte überlagerten sich beide Farben. Wer hatte das gemalt und was hatte er darstellen wollen? Hatte eine zerstreute Hand auf dem Papier die alten, in dem Buch beschriebenen Sternbilder wiedergeben wollen und beim Lesen zwei Skizzen übereinandergemalt? War es die Hand seines Vaters gewesen? Es war möglich. Doch sicher würde er es nie wissen.
Als er aufstand, um das Buch ins Regal zurückzustellen, fiel ihm ein Taschenbuch ins Auge, das ganz in der Nähe stand: Die spirituelle Bedeutung von Tätowierungen . Dem Cover nach stammte der Band aus den Achtzigerjahren.
Ein Buch über Tattoos. Alex’ Herz begann zu rasen. Das war das Letzte, was er in der Bibliothek seines Vaters erwartet hatte. Dabei war es im Grunde gar nicht so verwunderlich. Hugo war ein aufgeschlossener Mensch gewesen, wenn etwas charakteristisch für ihn war, dann seine Neugier. Er interessierte sich für alles, angefangen mit den Namen der Bäume und Insekten, die er bei ihren Ausflügen ins Umland entdeckte, bis hin zu den verschiedenen Rebsorten, die im Weinbau benutzt wurden. All diese Interessen spiegelten sich in seiner Bibliothek wider: Naturführer standen neben Lehrbüchern über Technische Mechanik, Biografien vergessener Persönlichkeiten warteten darauf, entdeckt zu werden, es gab sogar ein Nachschlagewerk über Kampfsportarten… Warum sollte bei all diesen Büchern nicht auch eins über Tätowierungen dabei sein? Schließlich war die Kunst der Tattoos ein kulturelles Phänomen, das es schon sehr lange gab. Es erschien Alex logisch, dass Hugo sich irgendwann einmal auch für dieses Thema interessiert hatte. Trotzdem: Der Fund war irgendwie beunruhigend, selbst wenn es purer Zufall war.
Alex zog das Buch aus dem Regal und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. Die Anfänge der Tätowierung – Das Tätowieren in primitiven Gesellschaften –
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