Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
mir bist, habe ich keine Angst, dachte sie.
Das Letzte, was sie noch hörte, ehe sie einschlief, war ein fernes Flüstern von Anna: »Ob wir wohl wieder träumen?«
Gabriel drehte sich in seinem Schlafsack hin und her. Unter ihm war nichts als Gras, doch es fühlte sich an, als liege er auf Wurzeln – oder Knochen.
Was für ein gruseliger Gedanke. Die Knochen der Toten. Vielleicht die Knochen seiner Toten, derer, die er auf dem Gewissen hatte. Das wäre zumindest ausgleichende Gerechtigkeit.
Obwohl er es nie zugegeben hätte, glaubte Gabriel an Gerechtigkeit.
Nicht, dass er bedauerte, den Typ in Stockton umgebracht zu haben. Der war bereit gewesen, ihn wegen fünf lumpiger Dollarscheine, die Gabriel in seiner Jeanstasche hatte, totzuschießen. Es war völlig in Ordnung, dass er den Kerl in die Hölle geschickt hatte.
Aber dann war da noch der zweite Mord. Der war ihm unabsichtlich unterlaufen, war passiert, weil ein starker Geist mit einem schwächeren in Kontakt getreten war. Gabriel war stark gewesen, und Iris, die süße Iris, so schwach. Zerbrechlich wie eine kleine
Porzellanfigur, empfindlich wie eine Blume. Ihre Lebensenergie war ihm zugeflossen, als wäre ihr die Hauptschlagader geöffnet worden. Und er …
… hatte es nicht aufhalten können.
Als es vorbei war, hatte sie schlaff und reglos in seinen Armen gelegen. Das Gesicht blau angelaufen, der Mund offen.
Gabriel lag ausgestreckt da und starrte in die grenzenlose Finsternis des Nachthimmels. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er schwitzte.
Ich würde sterben, wenn sie dadurch zurückkommen könnte, dachte er plötzlich völlig klar. Ich würde mit ihr tauschen. Ich gehöre in die Hölle, mit dem anderen Typen, aber Iris gehört hierher.
Es war merkwürdig, doch er konnte sich tatsächlich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Er wusste noch, dass er sie geliebt hatte, aber wie sie ausgesehen hatte, als sie noch am Leben war, wusste er nicht mehr. Seine Erinnerung wurde beherrscht vom leeren Blick ihrer aufgerissenen Augen, hilflos wie die eines erlegten Rehs.
Doch er konnte nicht mit ihr tauschen. So einfach war das nicht im Universum. So leicht würde er nicht davonkommen. Nein, sein Los war es, hier im Gras zu liegen, das sich wie Knochen anfühlte, und über die neuen Morde nachzudenken, die er künftig unweigerlich begehen würde.
Er hatte gar keine andere Wahl.
Das Mädchen in Oakland, die dürre Vogelscheuche mit der Einhorn-Tätowierung, hatte er nicht getötet, nicht ganz. Er hatte sie in einer Gasse liegen lassen, fast aller Lebenskraft beraubt, aber eben nur fast. Sie würde es überleben.
Aber heute Abend … heute war sein Verlangen größer. Das hatte Gabriel nicht erwartet. Er hatte es schon seit Stunden gespürt, dieses ausgetrocknete Gefühl, doch nun wurde es beinahe unerträglich. Er musste schon an sich halten, nicht Kessler anzuzapfen, der eine unerschöpfliche Energiequelle war, der Energie ausstrahlte wie ein Leuchtturm oder einer der Sterne, die dort oben leuchteten. Die Versuchung war fast unerträglich, zumal, wenn Kessler mal wieder so richtig nervte – also eigentlich immer.
Nein. Er würde niemanden aus seiner Gruppe anrühren. Abgesehen davon, dass damit sein Geheimnis ans Tageslicht käme, wäre es … unhöflich. Ungehobelt. Unkultiviert.
Und falsch, flüsterte sein Gewissen im entlegensten Teil seines Bewusstseins.
Halt die Klappe, sagte Gabriel.
Mit einer geschmeidigen Bewegung schlüpfte er aus dem Schlafsack.
Da Rob, der Wunderknabe, tabu war, musste er woanders auf Jagd gehen. Durch das Netz spürte Gabriel,
dass seine Begleiter in tiefen Schlaf gefallen waren. Durch das Fenster des Vans sah er nichts. Niemand würde ihn vermissen.
Unter dem Licht der Sterne ging er auf die Suche nach jemandem, an dem er seinen Hunger stillen konnte.
KAPITEL SECHS
Die Leute beugten sich über sie. Als Erstes fiel Kait auf, dass sie aussahen wie mit dem Bleistift gezeichnet: schwarz-weiß, völlig ohne Farbe. Als Zweites fiel ihr auf, dass sie böse waren.
Sie fragte sich, woher sie das wusste, doch es war klar. Klarer als die Gesichter der Leute, denn ihre Züge waren verschwommen, sahen aus, als würden sie sich viele tausend Male in der Sekunde hin und her bewegen.
Außerirdische, war ihre erste völlig abwegige Folgerung. Kleine graue Leute aus fliegenden Untertassen. Doch dann fiel ihr die weiße Gestalt ein, die Lewis auf dem Beifahrersitz gesehen hatte.
Kaitlyns Herz begann dumpf zu pochen,
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