Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
keiner sagte einen Ton, und dann kam von Gabriel unvermittelt ein Kommentar.
Also gut, dann los, beeilte sich Kait zu sagen. Es war ihr peinlich, und sie wollte nicht mit den anderen streiten. Doch als Rob die Tür öffnete, fragte sie Gabriel: Was hast du eben gemeint?
Nichts. Es ist nur ein interessanter Zufall, dass wir alle hier reinpassen, das ist alles.
Anna und Lewis stiegen vorne ein. Kaitlyn setzte sich hinten zwischen Rob und Gabriel. Die weißen Vinylsitze quietschten unter ihrem Gewicht.
»Ich heiße Lydia«, sagte das Mädchen leutselig. »Wo wollt ihr hin?«
Sie stellten sich vor – oder besser gesagt, übernahm das Lewis –, und Anna erklärte: »Wir wollen nach
Suquamish, in der Nähe von Poulsbo. Das ist noch ziemlich weit. Wo fährst du denn hin?«
Lydia zuckte die Schultern. »Eigentlich habe ich gar kein richtiges Ziel. Ich habe heute in der Schule blaugemacht, um ein bisschen herumzufahren.«
»Ach, dann gehst du wohl auf die North Mason High? Ich habe da eine Cousine. «
Annas Frage war absolut unschuldig, doch Lydia reagierte beleidigt. »Ich besuche eine Privatschule«, sagte sie kurz angebunden. Dann fügte sie hinzu: »Ist es dahinten auch warm genug? Wenn ich die Heizung zu weit hochdrehe, beschlagen die Fenster.«
»Es ist wunderbar«, sagte Rob, der Kaitlyn gerade die Hände warm rubbelte. Und er hatte recht: In einem warmen, trockenen Auto zu sitzen, war wunderbar. Kaitlyn war fast benommen von dem plötzlichen Luxus.
Allerdings fiel ihr auf, dass Lydia sie eindringlich musterte, Lewis und Anna von der Seite betrachtete und dann in den Rückspiegel sah, um die drei auf dem Rücksitz in Augenschein zu nehmen. Lewis schien die Aufmerksamkeit, die Kait Unbehagen bereitete, zu genießen. Lydia runzelte die Stirn und biss sich nachdenklich auf die Lippen.
»Also, was habt ihr eigentlich gemacht?«, fragte sie schließlich, fast beiläufig. »Ihr seid ja total nass.«
»Oh, wir waren …«Lewis rang nach Worten.
»Wir haben eine Wanderung gemacht«, sagte Gabriel monoton. »Der Regen hat uns voll erwischt. «
»Ihr seht eher aus, als hätte euch eine Flut erwischt. «
»Wir sind in einen Bach geraten«, sagte Gabriel, ehe Lewis antworten konnte.
»Ihr seid also aus der Gegend?«
»Aus Suquamish«, erwiderte Anna, und, was sie anging, entsprach das ja auch der Wahrheit.
»Ihr wandert ganz schön weit«, sagte Lydia und sah wieder in den Rückspiegel. Kait fiel auf, dass sie genau drei Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase hatte.
Lydias Skepsis hatte Kaits eigenes Misstrauen abgemildert. Die graugrünen Augen des Mädchens blickten wohl doch nicht hinterhältig, sondern eher vorsichtig. Vielleicht hatte Lydia schon so einiges erlebt, dachte Kaitlyn mitleidig.
Sie fuhren landeinwärts, durch Nadelwälder, in denen die Bäume hoch und die Stämme kahl waren.
Lydia warf sich das Haar in den Nacken und reckte das Kinn in die Luft. »Ich hasse die Privatschule«, verkündete sie plötzlich. »Meine Eltern wollen, dass ich da hingehe. «
Kaitlyn, die sich in der Wärme des Autos bereits entspannt hatte, überlegte sich eine Antwort. Doch Lewis erwiderte bereits mitfühlend: »Das klingt schrecklich.«
»Da ist alles so streng und sterbenslangweilig. Nie passiert etwas Aufregendes.«
»Ich weiß. Ich bin auch einmal auf eine Privatschule gegangen«, sagte Lewis. Lydia wechselte sofort das Thema.
»Nehmt ihr immer Reisetaschen mit, wenn ihr Wandern geht?«, fragte sie.
»Ja«, entgegnete Gabriel. Er schien Lydias Argwohn am besten besänftigen zu können. »Wir benutzen sie wie Rucksäcke«, sagte er scheinbar belustigt.
»Ist das nicht unpraktisch?«
Gabriel antwortete nicht. Lewis lächelte nur gewinnend.
Lydia rutschte noch eine Minute unruhig auf dem Fahrersitz hin und her, dann brach es aus ihr heraus: »In Wahrheit lauft ihr vor etwas weg, stimmt’s? Ihr wohnt gar nicht alle hier in der Nähe. Ihr trampt kreuz und quer durchs Land, oder etwa nicht?«
Sag ihr nichts, dachte Gabriel in Lewis’ Richtung. Da fuhr Lydia fort: »Ihr braucht es mir nicht zu sagen. Es ist mir egal. Aber ich wünschte, ich würde mal ein Abenteuer erleben. Ich habe diese privaten Reitvereine, die Country Clubs und diese ganze bessere Gesellschaft dermaßen satt.« Einen Augenblick schwieg sie, dann fügte sie hinzu: »Wenn ihr mir sagt, wie man da hinkommt, fahre ich euch nach Suquamish. Mir ist es egal, wie weit das ist.«
Kaitlyn wurde aus dem Mädchen nicht schlau. Sie war ein
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