Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
misstrauisch den dichten Regenwald, der vor ihnen lag.
»Dann wollen wir mal hoffen, dass wir uns nicht verlaufen«, murmelte Kaitlyn. Im Wald war es kühl und frisch. Es roch nach Weihnachtsbaum, Harz und feuchten Nadeln. Bei jedem Schritt spürte Kaitlyn,
wie ihre Schuhe im Waldboden versanken. Es war, als ginge sie über Federkissen.
»Das ist ganz schön urtümlich!«, keuchte Lydia, während sie sich einen Weg um einen umgestürzten Baum bahnte. »Mir fallen da sofort die Dinosaurier ein.«
Kaitlyn verstand, was sie meinte. Menschen hatten an diesem Ort, in dem das Pflanzenreich herrschte, nichts zu suchen. Wo man hinsah, wuchsen Pflanzen auf anderen Pflanzen: Farne auf Bäumen, kleine Sämlinge auf Baumstümpfen, Moos auf Ästen und an Stämmen.
»Hat mal jemand den Film Abenteuer im Spielzeugland gesehen?«, fragte Lewis mit gedämpfter Stimme. »Wisst ihr noch, der Wald ohne Wiederkehr?«
Sie marschierten mehrere Stunden, ehe sie sicher waren, dass sie sich verlaufen hatten.
»Das Problem ist, dass wir die Sonne nicht sehen können«, seufzte Rob erschöpft. Der Himmel war wieder mit Grau überzogen, und zwischen den Wolken und dem grünen Blätterdach über ihnen gab es keine Anhaltspunkte, an denen sie sich orientieren konnten.
»Das Problem ist, dass wir gar nicht erst hier hätten hereinstolpern dürfen«, blaffte Gabriel ihn an.
»Wie hätten wir denn dann zum weißen Haus kommen sollen?«
»Keine Ahnung, aber was wir hier machen, ist absolut hirnverbrannt.«
Wieder einmal bahnte sich zwischen den beiden ein Streit an. Als sich Kaitlyn enttäuscht abwandte, sah sie, dass Anna nach oben in die Bäume spähte. Da, auf einem Zweig, saß ein Vogel, dunkelblau mit einer hohen spitzen Haube.
»Was ist das?«
»Ein Diademhäher«, wisperte Anna, ohne den Blick von dem Vogel abzuwenden.
»Oh. Ist das ein seltener Vogel?«
»Nein, aber ein kluger Vogel. So klug, dass er eine Lichtung mit einem Haus ohne Schwierigkeiten finden kann. Und er kann über die Baumkronen fliegen.«
Kaitlyn dämmerte, worauf Anna hinauswollte. Sie musste an sich halten, um nicht in Jubel auszubrechen. »Meinst du …«, flüsterte sie.
»Ja. Sch.« Anna sah den Vogel unablässig an. Über das Netz war zu spüren, dass sie von surrender Energie umgeben war, die in Wärmewellen von ihr ausströmte. Der Häher gab einen krächzenden Ton von sich und flatterte mit den Flügeln.
Rob und Gabriel vergaßen ihren Streit und beobachteten sie neugierig.
»Was macht sie da?«, flüsterte Lydia Kait zu. Kait bedeutete ihr, still zu sein, doch Anna beantwortete die Frage.
»Ich sehe durch seine Augen«, murmelte sie. »Ich gebe ihm meine Vision – ein weißes Haus.« Sie starrte den Vogel weiter an, den Körper leicht hin und her wiegend. Ihre Züge waren entrückt, die Eulenaugen unergründlich und geheimnisvoll. Ihr dunkles Haar floss mit der Wiegebewegung mit.
Sie sieht aus wie eine Schamanin, dachte Kaitlyn. Wie eine Priesterin aus alten Tagen, die mit der Natur spricht, ein Teil der Natur wird. Anna war die Einzige von ihnen, die wirklich in diesen Wald zu gehören schien.
»Er weiß jetzt, wonach er suchen muss«, sagte Anna schließlich. »Und jetzt …«
Mit einem schnellfeuerartigen Krächzen flatterte der Vogel auf. Er stieg direkt ins Blätterdach auf und verschwand.
»Ich weiß, wo er ist«, sagte Anna, das Gesicht noch immer wie in Trance. »Kommt mit!«
Die anderen folgten ihr. Sie stolperten über bemooste Baumstämme, platschten durch seichte Bäche, kletterten steile Abhänge hinauf. Anna war immer so weit voraus, dass sie sie im Unterholz fast aus den Augen verloren. So marschierten sie, bis das Licht nachließ. Kaitlyn war völlig am Ende.
»Wir müssen uns ausruhen«, keuchte sie und setzte sich neben einem Bach, an dessen Ufer riesige gelbe Blumen wuchsen, auf einen Baumstumpf.
»Wir können jetzt keine Pause machen«, rief Anna über die Schulter zurück. »Wir sind gleich da.«
Kaitlyn stand auf und hatte plötzlich das Gefühl, dass sie noch einen Marathon laufen konnte. »Bist du sicher? Kannst du es sehen?«
»Komm«, sagte Anna. Sie wartete auf Kaitlyn, eine Hand am Stamm einer moosbewachsenen Zeder. Als Kaitlyn bei ihr war, blickte sie ihr über die Schulter.
»Oh …«, flüsterte sie.
Das weiße Haus stand auf einer kleinen Anhöhe in einer Lichtung. Aus der Nähe sah Kait, dass es von mehreren Nebengebäuden umgeben war, die verwittert und baufällig aussahen. Das Haus war größer, als
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