Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
Entschlossenheit gewichen, und Kaitlyn sah, dass sie sich endlich entschieden hatte, auf welcher Seite sie stand. Frost behinderte sie, blockte sie ab wie ein Verteidiger einen Stürmer. Auch Renny versuchte sich zu bewegen. Schakal Mac, der die Ketten hatte fahren lassen, rang in Zeitlupe mit ihm.
Rob, Anna und Lewis kämpften sich in Gabriels Richtung vor. Ihre Füße schienen am Boden festgewachsen zu sein, doch hin und wieder gelang ihnen ein Schritt. Sogar Tamsin strengte sich an. Mr Zetes drehte sich mit erhobenem Stock im Kreis und brüllte. Er konnte sie nicht alle gleichzeitig in Schach halten.
Dann sah Kaitlyn, dass Lydia frei war und vorwärtskam, langsam, aber beständig, immer weiter auf Gabriel und den Kristallsplitter zu.
»Joyce! «, schrie Mr Zetes. »Halten Sie sie auf! Sie ist genau neben Ihnen! Halten Sie sie auf!«
Doch Joyce schüttelte nur den Kopf. »Es ist allerhöchste Zeit, dass es vorbei ist, Emmanuel«, sagte sie ruhig. Prompt waren sie und Lydia ebenfalls in der klebrigen Luft gefangen. Lydia kämpfte sich verbissen weiter.
»Haltet sie auf!«, brüllte Mr Zetes und drosch mit dem Stock auf Sasha und Parté King ein. »Haltet sie auf! Haltet sie alle auf! «
Kaitlyn hörte das Zischen des Stockes und die dumpfen Schläge. Sie sah die wachsende Anspannung in Gabriels Gesicht, in die sich wilde Entschlossenheit mischte. Der Kristallsplitter bebte und näherte sich dem großen Kristall millimeterweise.
»Gabriel«, sagte Mr Zetes. »Denk daran, was du alles erreichen wolltest. Du wolltest ganz nach oben kommen. Du wolltest alles haben, Geld, Macht, eine Stellung in der Welt – all das, was du verdient hast.«
Gabriel keuchte. Der Schweiß lief ihm über die Schläfen.
»Anerkennung deiner Überlegenheit – ohne mich wirst du nichts davon erlangen«, fuhr Mr Zetes fieberhaft fort. »Was ist damit, Gabriel? Was ist mit all den Dingen, die du immer haben wolltest?«
Gabriel hob den Kopf gerade so weit, dass er Mr Zetes in die Augen sehen konnte. »Zur Hölle damit.«
Dann biss er die Zähne zusammen, und der Kristallsplitter bewegte sich wieder.
Mr Zetes geriet außer sich.
Er begann zu kreischen, schrill und durchdringend, und drosch wieder auf Sasha ein. »Halt ihn auf! Halt ihn auf! Halt ihn auf!«
Zum ersten Mal schwoll auch Sashas Stimme an: »Muh-muh! Muhhh! Muhhh! Muu-tter!«
Da schrie auch Kaitlyn. Sie schluchzte ungehemmt, kämpfte gegen die Enge an.
Plötzlich war der Sog weg, und die Luft hatte ihre klebrige Konsistenz verloren. Alles, was dann innerhalb von Sekunden geschah, erreichte Kaitlyns Gehirn im Nachhinein, wie eine Reihe vieler Momentaufnahmen. Die Eindrücke waren da, ehe sie sie verarbeiten konnte.
Sie konnte sich wieder frei bewegen. Sashas Blick ruhte auf Mr Zetes. Sein Maden-Gesicht war nicht mehr weiß, sondern puterrot vor Wut, wie das eines trotzigen Kleinkindes. Und dann flog Mr Zetes auf den Kristall zu – er flog tatsächlich, wie von Zauberhand geworfen. Er krachte in dem Moment in die spitzen Auswüchse des schweren, massiven Kristalls, als Gabriel den Splitter wie einen Dolch in das Monstrum stieß.
Die Ereignisse überstürzten sich. Obwohl Kaitlyns Körper frei war, ging alles zu schnell, als dass sie etwas hätte unternehmen können. Es blieb ihr nur Zeit für einen Gedanken. Den schickte sie ihren Freunden in dem Moment zu, als sie den Splitter auf den Kristall treffen sah. Während Gabriel ihn noch in der Hand hielt …
Schützt Gabriel! Beschützt ihn … mit euren Gedanken …
Die Worte kamen nicht sehr deutlich, doch die Absicht war klar. Kait spürte, dass alle im Netz, Rob, Lewis und Anna, mit ihr gemeinsam Gabriels Geist vor der Zerstörung schützten.
Im selben Moment, kam der Splitter mit einem der milchigen Auswüchse des Kristalls in Berührung, und Mr Zetes’ kreischendes Wehklagen setzte ein.
Und dann …
Der Lärm des zersplitternden Kristalls klang wie eine Axt, die Glas zerschmettert oder wie ein Überschallknall, der Fenster bersten lässt. Ein Donnergrollen war zu hören, das Knacken von Eis auf einem zugefrorenen See und das hohe Kreischen von Seemöwen – oder vielleicht kam das auch von Mr Zetes.
Und neben all diesen Geräuschen hörte Kaitlyn eine Art Musik – die Art Geräusche, die entstehen, wenn Wasser durch Kupferrohre rauscht.
Dann war da das Licht. Es war das Licht, das man nach einer Atombombenexplosion zu sehen erwartet, kurz bevor die pilzförmige Wolke aufsteigt. Kaitlyn kniff instinktiv
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