Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
Zetes schien weniger überrascht zu sein als sie. Verärgert, sicher, aber nicht erstaunt. »Bösartig«, sagte er stirnrunzelnd. »Ich fürchte, das ist ein sehr emotionales und ungenaues Wort. Vieles sieht böse aus, obwohl es in einem höheren Sinne gut ist.«
»Hier gibt es aber keinen höheren Sinn«, rief Kaitlyn. »Ihnen geht es nur darum, dass Sie alles aus uns herausholen.«
Mr. Zetes schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich kann jetzt meine Zeit nicht mit lächerlichen Zankereien vertun. Aber ich hoffe aufrichtig, dass du am Ende vernünftig wirst. Ich glaube, du wirst das mit der Zeit schaffen, wenn ich dich lang genug hierbehalte.« Er wandte sich an Gabriel. »Also …«
Da tat Kaitlyn etwas, von dem sie schon im selben Moment wusste, dass es eine Dummheit war. Ihre Wut auf Mr. Zetes und seine unerträgliche Selbstgefälligkeit, seine Gleichgültigkeit gegen ihre Einwände ließ sie jede Vorsicht vergessen.
»Sie werden keinen von den anderen dazu bringen, mitzumachen«, sagte sie. »Keinen. Rob würde ihnen nicht einmal zuhören. Und wenn ich nicht zurückkomme, wissen sie, dass etwas nicht stimmt. Sie wissen auch schon von dem verborgenen Raum im Institut. Und sie sind miteinander verbunden, wir sind alle telepathisch miteinander verbunden, alle fünf. Und …«
»Was?«, sagte Mr. Zetes. Zum ersten Mal zeigte sein Gesicht eine Gefühlsregung. Verblüffung – und Wut. Er sah Gabriel scharf an. »Was soll das heißen?«
»Es stimmt doch!«, sagte Kaitlyn. »Erzähl es ihm, Gabriel.« Und sag ihm, dass er verrückt ist. Du weißt, dass es so ist. Du weißt es!
»Es ist einfach passiert«, erklärte Gabriel Mr. Zetes. »Es war ein Unfall. Ich wusste nicht, dass es von Dauer sein würde. Wenn ich das gewusst hätte« — ausnahmsweise sah er einmal Kaitlyn an –, »wäre es nie geschehen.«
»Aber das ist … ihr behauptet also, dass ihr fünf eine stabile telepathische Verbindung aufgebaut habt?« Mr. Zetes brach ab. Sein Gesicht war jetzt dunkelrot vor Zorn. »Wisst ihr nicht, dass ihr dadurch völlig nutzlos seid?«
Gabriel sagte nichts, doch Kaitlyn spürte, dass er ebenso zornig war wie Mr. Zetes.
»Ich habe auf euch gezählt«, sagte Mr. Zetes. »Ich brauche euch. Ihr müsst mir das Problem mit der Familie
Diaz vom Hals schaffen. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen …« Er verstummte. Kaitlyn sah, dass er mit aller Kraft versuchte, sich zu beherrschen. Nach wenigen Sekunden hatte er sich im Griff. Er seufzte, und seine Züge entspannten sich.
»Es lässt sich jetzt nicht ändern«, sagte er. »Aber es ist wirklich schade. Ihr wisst ja gar nicht, wie viel Arbeit damit umsonst war.« Er sah Kaitlyn an. »Ich hatte große Hoffnungen in dich gesetzt.«
Dann sagte er: »Prince, voran.«
Kaitlyn hatte die Rottweiler fast vergessen, doch nun kam einer direkt auf sie zu, mit gesträubtem Nackenhaar und gefletschten Zähnen. Er gab keinen Ton von sich, doch das machte ihn nur umso unheimlicher.
Unwillkürlich machte Kaitlyn einen Schritt zurück. Der Hund folgte ihr. Als er bei ihr war, wich sie erneut zurück, und da erst merkte sie, was geschehen war. Sie stand in dem Metallkäfig.
Mr. Zetes war zu einer Art Pult gegangen, das am anderen Ende des Raumes stand. Er drückte einen Knopf, und die Tür zum Käfig schloss sich.
»Ich habe es Ihnen gesagt«, sagte Kaitlyn aufgewühlt. »Wenn Sie mich hier festhalten, werden es die anderen herausfinden …«
Als hätte er sie nicht gehört, sagte Mr. Zetes zu Gabriel: »Töte sie.«
Entsetzen brach über Kaitlyn herein wie eine eiskalte Dusche. Erst jetzt wurde ihr klar, wie dumm sie gewesen war. Die Ausweglosigkeit ihrer Lage ließ ihr kaum noch Luft zum Atmen, Raum zum Denken.
»Keine Sorge, das ist nur ein Faradayscher Käfig«, erklärte Mr. Zetes Gabriel. »Er hält zwar die normalen elektromagnetischen Wellen ab, ist aber für deine Kräfte durchlässig. Er ähnelt dem Stahlraum im Institut, und der war für dich ja auch kein Problem.«
Gabriel sagte nichts. Auf seinem versteinerten Gesicht konnte Kaitlyn keine Gefühlsregung lesen. Auch über das Netz nahm sie nichts wahr. Sie war wie betäubt.
»Los«, sagte Mr. Zetes, dem die Ungeduld mittlerweile ins Gesicht geschrieben war. »Glaub mir, es gibt keine Alternative. Wenn es eine gäbe, würde ich mir die Arbeit ersparen, nach einem neuen Kandidaten zu suchen – aber ich habe keine Wahl. Die Verbindung muss durchbrochen werden. Und das geht nur, wenn einer von euch fünf
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