Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
die Stimme eines Mannes, der Bescheid wusste. »Schon am Institut war klar, dass ihr beide das größte Potenzial habt. Ich wusste, dass ihr die anderen sehr bald abhängen würdet. Ihr seid den anderen weit voraus. «
Potenzial? Ich?, dachte Kaitlyn. Ein Teil von ihr, ein winziger Teil, fühlte sich geschmeichelt. In Thoroughfare hatte sie die anderen Schüler abgehängt, das wusste sie. Die anderen hatten nur Cheerleading und Football im Kopf gehabt, während sie über die Welt nachgedacht hatte. Und darüber, wie sie da rauskommen konnte.
»Ihr verfügt über … sagen wir, einen weiteren Horizont«, sagte Mr. Zetes, als wolle er ihre Gedanken fortführen. Das reichte aus, um Kaitlyn einen Schreck einzujagen. Sie sah ihn beunruhigt an. Doch seine wachen alten Augen lächelten milde, und er fuhr fort: »Ihr seid Visionäre, wie ich auch«, sagte er. Er lächelte.
»Wie ich.«
Diese Wiederholung machte Kaitlyn nervös.
Jetzt kommt es, dachte sie. Was es auch sein mag. Er hat das die ganze Zeit vorbereitet, und jetzt kommt es.
Es folgte ein ausgedehntes Schweigen. Mr. Zetes
hatte den Blick auf seinen Schreibtisch geheftet, auf den Lippen ein schwaches Lächeln, als sei er in Gedanken vertieft. Gabriel nippte an seinem Brandy und starrte dabei auf den Boden, die Augen leicht verengt; auch er wirkte gedankenverloren. Kaitlyn war so unbehaglich zumute, dass sie kein Wort herausbrachte, ja, sich nicht einmal rühren konnte. Ihr Herz hämmerte langsam, aber unerbittlich.
Gerade, als die Stille unerträglich wurde, hob Gabriel den Kopf. Er sah Mr. Zetes in die Augen, lächelte schwach und sagte: »Und worin genau besteht Ihre Vision?«
Mr. Zetes sah Kaitlyn an – eine reine Förmlichkeit. Er schien anzunehmen, dass Gabriel für sie beide gesprochen hatte.
Als er nun wieder zu sprechen anhob, war sein Ton unangenehm komplizenhaft. Als teilten sie ein Geheimnis. Als hätten sie bereits ein Abkommen getroffen.
»Das Stipendium ist natürlich nur der Anfang. Aber das ist euch sicher schon lange bewusst. Ihr beiden habt so viel … Potenzial, dass ihr, wenn ihr erst die richtige Ausbildung habt, euren Preis selber festlegen könnt.«
»Und die richtige Ausbildung wäre …?«
»Ich glaube, es ist an der Zeit, euch das zu zeigen.« Mr. Zetes stellte sein leeres Glas ab. »Folgt mir.«
Er stand auf und ging zu einer der walnussvertäfelten Wände. Als er ein Paneel berührte, warf Kaitlyn Gabriel einen überraschten Blick zu, doch der sah sie gar nicht an. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt Mr. Zetes.
Das Paneel glitt zur Seite. Kaitlyn sah einen Augenblick lang ein schwarzes Viereck, dann leuchtete ein rötliches Licht auf, das offenbar automatisch angegangen war. Mr. Zetes war als Silhouette vor dem rot beleuchteten Eingang zu sehen.
Mein Bild!, dachte Kaitlyn.
Aber es gab Unterschiede. Mr. Zetes trug keinen Mantel, und das rote Licht war auch nicht so hell. Das Bild war wohl keine genaue Wiedergabe der Situation, sondern eher symbolisch zu verstehen. Dennoch: Man konnte es erkennen.
Mr. Zetes drehte sich fast feierlich zu ihnen um. »Hier entlang«, sagte er. Er erwartete wohl, dass sie überrascht waren, doch Kaitlyn gelang es nicht, ihm Erstaunen vorzugaukeln. Als Gabriel als Erster durch die rechteckige Türöffnung trat und die Treppe hinunterging, wurde ihr klar, dass es für Widerspruch jetzt zu spät war. Mr. Zetes sah sie auffordernd an. Prince und Baron saßen zu seinen Füßen.
Es blieb ihr nichts anderes übrig – sie machte sich auf den Weg.
Die Treppe war länger als die im Institut und endete
in einer Diele mit mehreren Türen und abzweigenden Fluren. Ein unterirdisches System, dachte Kaitlyn. Mr. Zetes ging mit ihnen durch den Gang.
»Das ist ein … ganz besonderer Raum«, sagte er und blieb vor einer zweiflügeligen Tür stehen. »Kaum jemand kennt ihn. Ich will ihn euch gern zeigen.«
Er stieß die Türen auf, und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung einzutreten. Dabei musterte er sie genau. Im grünlich fluoreszierenden Licht der Diele nahm seine Haut einen ungesund kalkfarbenen Ton an, und seine Augen schienen smaragdgrün zu glimmen.
Kaitlyn liefen kalte Schauer über den Rücken. Sie war sich plötzlich ganz sicher, dass dort, in diesem Raum etwas Schreckliches auf sie wartete.
Gabriel trat ein. Mr. Zetes fixierte Kaitlyn mit leichenhaft unbewegtem Gesicht. Sie folgte Gabriel.
Der Raum war so weiß, dass es die Augen blendete. Er sah genauso aus, wie sich Kaitlyn die
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