Visite bei Vollmond
vorsichtig in die Hand und musterte erst die
Kurbel, dann die Seiten und schlieÃlich sogar die Unterseite. Dort fand ich
mehrere Schlitze, in die winzige Klingen eingebettet waren. Das Metall war alt.
Die Messer waren schmutzig.
Ein Schröpfschnepper. So einen
hatte ich einmal in einem Kurs an der Schwesternschule gesehen, als uns erklärt
wurde, welch groÃe Fortschritte die Medizin in den letzten Jahrhunderten
gemacht habe, wie weit sich die Technik noch entwickeln würde und dass wir, die
Schwestern der nächsten Generation, dafür Sorge zu tragen hätten. Mit einem
solchen Ding wurden vor langer Zeit Patienten zur Ader gelassen, wenn ein
einzelner Schnitt nicht ausreichte. Inzwischen war natürlich erwiesen, dass
diese Methode medizinisch unbrauchbar war, doch früher stand sie hoch im Kurs.
Wie auch kokainhaltige Cola, Magnetismus und die gesundheitsfördernde Wirkung
des Rauchens.
Heutzutage wurden keine Schröpfschnepper
mehr hergestellt â da einfach niemand mehr daran glaubte, dass bluten gesund
sein könnte.
AuÃer Vampire natürlich.
Anna rollte einen weiÃen Ãrmel
hoch und streckte mir ihr Handgelenk entgegen. Ein weiterer Zuschauer brachte
uns eine goldene Urne, an der ein filigraner Hahn angebracht war.
»Ich vertraue dir«, sagte Anna
und sah mich durchdringend an. Ich wusste ja, was auf dem Spiel stand, aber â¦
»Es wird nichts passieren, Edie. Ich vertraue dir.«
Mir war klar, dass ich sie
nicht verletzen konnte, auch mit diesem Ding nicht. AuÃerdem fanden Vampire â
manchmal sogar ich selbst â Schmerz oft durchaus anregend. Aber trotzdem.
Wo war denn der Unterschied, ob
ich jemandem zu seinem eigenen Wohl eine Nadel in die Haut stach oder ihr jetzt
diese verkrusteten Klingen in den Arm bohrte? Wie oft hatte ich schon jemandem
wehgetan, damit es besser wurde? Anderen genauso wie mir selbst? Sie wollte,
dass ich es tat. Wenn ich mich weigerte, konnte das ihr Ende bedeuten. Und das
Ende unserer Freundschaft.
Ich legte das Kästchen auf ihr
Handgelenk, stabilisierte es mit meinem Daumen und hielt es ruhig, indem ich
ihren Unterarm umfasste. Ihre Haut war so weich â¦
Und dann drehte ich an der
Kurbel. Die Klingen schoben sich aus ihren Schlitzen. Ich wagte es nicht,
aufzusehen.
Kapitel 46
Â
Anna
zuckte nicht einmal.
Die Klingen waren
stumpf, wahrscheinlich waren sie irgendwann vor hundert Jahren einmal scharf
gewesen. Wenigstens musste ich mir keine Gedanken um Infektionen machen â
dieses Ding war älter als das Wissen um Bakterien und die Erfindung des
Dampfsterilisators â, da Anna sich auf diese Weise gar nicht verletzen konnte.
Ich drückte fester und kurbelte mit mehr Wucht. Dabei kam ich mir vor wie das
Ãffchen eines perversen Leierkastenmannes, der eine Münze dafür bekommt, dass
er anderen das Blut abzapft.
Dann quollen die ersten Tropfen
hervor. Erst liefen sie in dünnen Bahnen über Annas Unterarm, dann vereinigten
sie sich an ihrem Handgelenk zu einem Strom und sammelten sich schlieÃlich in
ihrer Handfläche.
Annas Blut war so warm, wie das
Blut der toten Vampire niemals sein würde, und fiel in heiÃen Tropfen in die
goldene Urne. Ich hörte sie aufschlagen wie Regen an einem zu dünnen Fenster,
dann war genug Blut in dem GefäÃ, dass es wie ein dünner Wasserstrahl klang.
Ich konnte die Vampire in der
Menge nicht sehen, aber ich spürte ihre gespannte Erwartung. Wie viel Blut
befand sich in einem Körper von Annas GröÃe und Gewicht? Eigentlich kannte ich
die Antwort. Doch ich versuchte angestrengt, nicht darüber nachzudenken.
Die Helfer traten vor, drehten
an dem Hahn der Urne und füllten Annas Blut in kleine TrinkgefäÃe, die sie auf
Tabletts verteilten. Entsetzt erkannte ich, dass es Abendmahlskelche waren.
Manche Diener waren sehr geschickt und fingen jeden Tropfen auf. Andere waren
verschwenderisch, machten die Kelche zu voll und lieÃen sie überlaufen. Anna
beachtete sie gar nicht, und als ich etwas sagen wollte, legte sie mir die
freie Hand auf die Schulter. »Ich heile schnell, selbst jetzt noch«, sagte sie.
»Mach weiter.«
Ich hatte nicht daran
gedacht, die Versammelten zu zählen. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan.
Immer mehr Kelche wurden gefüllt, verteilt und wieder gefüllt. Annas Hand lag
ruhig auf meiner Schulter, weder krallte sie sich an mich noch drohte sie vor
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