Visite bei Vollmond
mit
dir.«
Unschlüssig blieb ich
vor Zimmer eins stehen. Gina hörte sich gerade den Bericht der Tiermedizinerin
aus der letzten Schicht an, deren Helferin ebenfalls noch im Zimmer war,
ausgerüstet mit einem Betäubungsgewehr. Da wusste ich, was ich den Rest der
Nacht zu tun hatte.
»Psst, Lynn â¦Â«, flüsterte ich,
und sofort schaute sich die Schwester mit dem Gewehr nach mir um. Erleichtert
sackte sie in sich zusammen.
»Gott sei Dank, das wurde auch
Zeit.« Sie schob sich aus dem Zimmer, während ich mir am Gerätewagen meine
Isolationsausrüstung zusammensuchte: ein dünner Baumwollkittel, Schutzhaube,
Handschuhe und Maske. Aus dem Krankenzimmer schlug mir Hitze entgegen, und
sofort fing ich an zu schwitzen. Das würde eine lange Nacht werden.
Ich nahm ihr die Waffe ab. Lynn
streckte sich, woraufhin es in ihrem Rücken zweimal knackte. Schwungvoll
deutete ich mit dem Gewehr in den Raum. »Ist das wirklich nötig?«
»Willst du es darauf ankommen
lassen?« Sie zog ihren Kittel aus und warf ihn in einen Wäschewagen. »Das
Domitor verlangsamt die Verwandlung zwar, aber es ist nicht perfekt. Und mit
jeder Minute nähern wir uns mehr dem Vollmond.«
»Auch wieder wahr.«
Sie erwischte mich dabei, wie
ich sie statt den Patienten ansah. »Immer das Ziel anvisieren, Spence«, mahnte
sie, zeigte mit zwei Fingern auf ihre Augen, dann in das Krankenzimmer. »Du
musst ihn immer im Blick behalten.«
Mit einem hastigen Nicken
machte ich mich ans Werk.
Ich postierte mich an
der Tür, drückte das Gewehr an die Schulter und richtete den Lauf auf den
Boden. Von hier aus konnte ich noch das Ende des Berichts mit anhören. In
gewisser Weise war ich froh, dass ich das Gewehr halten musste â obwohl ich
sowohl auf Y4 als auch auf dem SchieÃstand als miserabler
Schütze galt, war das immer noch einfacher als sich um acht verschiedene
intravenöse Zugänge kümmern zu müssen. Der Körper unseres Patienten wurde von
diversen MaÃnahmen unterstützt: Wir hielten seinen Blutdruck konstant, aber
nicht zu hoch, kontrollierten stündlich die Insulinwerte und pumpten ihn mit
Antibiotika voll, deren Namen ich nicht einmal kannte. Es klang so, als läge
bei Winter noch wesentlich mehr vor als ein paar einfache Verletzungen.
Und am Ende des Berichts hörte
ich das Wort Amputation. Mit einem überraschten Blinzeln sah ich mir Winter
genauer an. Und tatsächlich zeichnete sich sein linkes Bein unter der Decke nur
bis zur Hälfte ab, der Unterschenkel war direkt unter dem Knie abgetrennt
worden. Der Unfall hatte aus Karl Winter einen dreibeinigen Hund gemacht. Das
klang wie die Pointe eines Witzes, ich bezweifelte jedoch, dass Winter es
besonders komisch fand, falls er aufwachte.
Hinter mir raschelte Papier,
und die Werte wurden verlesen, dann knallten die Schubladen des Gerätewagens,
als Gina ihre Ausrüstung anlegte.
»Ich schätze, du warst nicht
noch einmal auf dem SchieÃstand, seit wir das hier das letzte Mal gemacht
haben.« Gina klang ernst. Sie war jetzt im Arbeitsmodus, und auch wenn wir
sozusagen Freundinnen waren, würde ich mich heute Nacht nicht aus dem Fenster
lehnen.
»Ich hatte diesen Monat einfach
zu viel zu tun, um meine Kugelration zu verballern«, gab ich zu. Unsere Arbeit
auf Y4 verschaffte uns Zugang zu Munition und kostenlose Ãbungszeit auf dem
SchieÃstand. Wir wussten beide, dass ich eine grauenhafte Schützin war. »Ich
gehe einfach näher ran.«
»Klingt gut«, erwiderte Gina.
Mir fiel allerdings auf, dass ihre erste MaÃnahme darin bestand, Winters
Beruhigungsmitteldosis zu erhöhen.
Ich beobachtete, wie sie die
Infusionen überprüfte und sich dann dem Patienten zuwandte. Es war merkwürdig,
einer anderen Schwester dabei zuzusehen, wie sie ihre Arbeit machte, während
ich durch die Waffe behindert wurde. Je näher Gina ihm kam, desto fester legte
sich mein Finger um den Abzug.
»Wie geht es ihm?«
»Nicht gut.« Mit einer hellen
Lampe leuchtete sie ihm in die Augen. »Eine gewisse Hirnfunktion ist noch
vorhanden, er schafft auch ein paar eigenständige Atemzüge, aber die
Hauptarbeit macht das Beatmungsgerät. Schwer zu sagen, ob noch etwas von ihm
übrig ist.«
»Wann werden wir es wissen?«
Gina zuckte mit den Schultern.
»Bei Vollmond?«
»Aha.« Ich versuchte mir
vorzustellen, wie ich während der
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