Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
Vom Netzwerk:
folgenden sechs Nächte hier stand und nichts
anderes tat, als mir ständig das Gewehr an die Schulter zu drücken. Am Ende
würde ich wahrscheinlich einen Buckel haben.
    Â»Sie glauben, dass die Blutung
im Gehirn endlich nachgelassen hat.«
    Â»Warum mussten sie sein Bein amputieren?«
    Â»Bei Formwandlern kann man
Gliedmaßen nur sehr schwer replantieren. Diese blöden Selbstheilungskräfte –
das ist, als würde man mit Superkleber arbeiten, aber man klebt sich ständig
die Finger zusammen. Man bringt das Amputat wieder an, es hält zunächst auch,
aber die inneren Blutgefäße treten nicht mehr miteinander in Verbindung. Dann
entsteht eine Infektion und alles fällt wieder ab«, erklärte Gina und beugte
sich vor, um ihn abzuhören. »Wenn der Patient bei Bewusstsein ist und es
kontrollieren, also den Heilungsprozess verlangsamen kann, geht es noch
einigermaßen. Ist er bewusstlos oder steht unter Schock, sieht die Sache ganz
anders aus.«
    Ich wartete, bis sie das
Stethoskop abnahm, damit sie meine Fragen auch hören konnte. »Moment mal, das
verwirrt mich jetzt. Warum hat er sich denn nicht gleich am Unfallort selbst
geheilt?«
    Â»Die Schädigung des Gehirns –
ich denke, dadurch wurde er daran gehindert. Der Schock, die Verletzungen … wer
weiß das schon?« Sie deutete auf ihren eigenen Schädel, dann hängte sie das
Stethoskop über einen Infusionsständer. »Außerdem ist er sehr alt.«
    Â» So alt sieht er doch gar
nicht aus.« Er wirkte wie sechzig, aber das war heutzutage ja kein Alter mehr.
Im County gab es ganze Flügel, die nur mit Leuten über siebzig belegt waren.
    Â»Das ist der älteste lebende
Gestaltwandler, den ich je gesehen habe, Edie.« Sie streifte ihren Kittel ab
und ging auf den Flur hinaus. Ich ging rückwärts zur Tür und lehnte mich gegen
den Rahmen. Mein linker Arm tat jetzt schon weh, da ich das Gewehr die ganze
Zeit auf Halbmast gehalten hatte.
    Â»Wie alt ist er denn?«
    Â»Achtundfünfzig.«
    Â»Meine Mom ist achtundfünfzig.
Achtundfünfzig ist das neue Zwanzig.«
    Gina lachte, was wirklich nett
war, denn so wusste ich, dass sie ihren Sinn für Humor nicht verloren hatte.
»Werwölfe bauen im Alter stark ab. Die Verwandlungen verlangen dem Stoffwechsel
einiges ab – nicht ganz einfach, immer im höchsten Gang unterwegs zu sein. Ihr
Leben berechnet sich in Hundejahren. Unser Anonymus hat schon wesentlich mehr
Jahre auf dem Buckel, als sie normalerweise schaffen.«
    Â»Oh, da fällt mir ein, Meaty
hat mir aufgetragen, dir zu sagen, sein Name sei Karl Winter.«
    Ich hörte, wie Gina hinter mir
zischend die Luft einsog. »Kein Wunder, dass er mir so bekannt vorkam.
Verdammte Scheiße.«
    Â»Warum? Was ist denn los?«
    Â»Er ist der Werwolfkönig.«

Kapitel 9
    Â 
    Â»Und
ich bin der Nussknacker«, erwiderte ich. Schweigen. »Hey, Gina, das war doch
lustig …«
    Gina stöhnte gequält.
»Er ist nicht irgendein Werwolfrudelführer – er ist der einzige Leitwolf der
Stadt. Er nennt das eine Koalition, aber die sind nicht wirklich demokratisch
organisiert.« Sie nahm den Arztbericht von der Aufnahme am Vortag zur Hand.
    Â»Woher weißt du das?«
    Â»Ich bin die Tierärztin mit
Spezialgebiet Gestaltwandler, natürlich weiß ich so etwas. Jetzt muss ich alles
doppelt und dreifach prüfen.« Sie blätterte hektisch in dem Krankenblatt und
ging die Angaben durch.
    In meinem ehemaligen Job hatte
ich einmal einen Patienten gehabt, der mit einem Senator verwandt gewesen war,
und er hatte es geschafft, diese Tatsache in wirklich jede Unterhaltung mit
einfließen zu lassen. Man kann die Angestellten eines Krankenhauses mit kaum
etwas so gut einschüchtern wie mit der Drohung, von jemandem verklagt zu
werden, der richtig gute Anwälte hat. »Aber er ist doch ein Anonymus, oder
nicht? Dann weiß es also niemand.«
    Â»Das funktioniert maximal für
achtundvierzig Stunden. Wenn der Leitwolf des Rudels Harscher Schnee verschwindet, bleibt das nicht unbemerkt …«
    Â»Na gut, aber er ist doch erst
seit einer Dreiviertelstunde dein Patient. Ich denke, bisher bist du auf der
sicheren Seite.«
    Â»Das glaubst du, aber ich hänge
an meiner Zulassung. Warte kurz.« Gina kontrollierte noch einmal ihre Arbeit,
während ich schweigend zusah, wie Winter atmete. Seine Brust hob

Weitere Kostenlose Bücher