Visite bei Vollmond
darauf ein, dass sie
sich eure Unterlagen ansehen und euch mit Argusaugen beobachten werden.«
Gina zischte enttäuscht. »Ich
wusste doch, dass ich diesen Anruf besser hätte ignorieren sollen.«
»Müssen wir mit den Wachleuten
reden?«, fragte ich.
»Nur, um ihre Fragen zu
beantworten. Sucht euch besser keine anderen Gesprächsthemen.« Meaty sah uns
abwechselnd an. »Und zu guter Letzt: Die Familie hat eine VaW -Anordnung vorgelegt.«
»Verdammte ScheiÃe«, fluchte
Gina. Ich stöhnte auf.
Wenn das Spiel sich seinem Ende
näherte, waren Anordnungen zum Verzicht auf Wiederbelebung immer eine
schwierige Angelegenheit. Solange der Patient die Erklärung bei einem
Zusammenbruch nicht direkt am Körper trug â zum Beispiel auf der Brust
eintätowiert â, war es für den Verzicht meistens zu spät. Nach dem Eintreffen
des Patienten in der Klinik wurden die Beatmungsschläuche dann bereits
angeschlossen. Aufgrund einer bewussten Entscheidung überhaupt keine Schläuche
zu legen, war eine Sache â aber es war etwas völlig anderes, später die Familie
davon zu überzeugen, dass sie wieder entfernt werden sollten.
»Sind sie sich denn einig?«,
fragte ich. Das war auch ein groÃes Thema bei VaW s: So ziemlich jeder
konnte die Anweisung geben, sie zu ignorieren, egal ob Ehefrau, Erstgeborener
oder irgendein entfernter Cousin. Jeder, der noch nicht mit dem Sterbenden
abgeschlossen hatte, konnte im Todeszug die Notbremse ziehen.
»Der Neffe nimmt sich von der
Entscheidung aus. Die Tochter ist noch unentschlossen. Morgen wird eine
Familienkonferenz stattfinden. Ich nehme mal an, dass sie es bis Vollmond
aufschieben werden.«
»Was für eine beschissene Art,
den Tag nach Weihnachten zu verbringen«, meinte ich.
»Was für eine beschissene Art,
die nächsten acht Stunden zu verbringen«, ergänzte Gina und warf mir einen
finsteren Blick zu.
Natürlich hatte sie recht. Wir
würden uns die Nacht damit beschäftigen, Winters Durchhaltevermögen zu stärken
â und das mit einem minimalen Spielraum für eventuelle Fehler. Und wenn er
kollabierte und wir danach eine Glanzleistung erbrachten, um ihn zu retten,
konnte unser gesamter Einsatz durch die VaW morgen rückgängig gemacht werden. Und wer
wusste schon, wie lange Winter danach noch durchhielt? Vielleicht gelang es uns
ja, seinen Körper an der Haltestelle Tod vorbeizuschleusen, aber was kam dann?
Ich hatte Patienten mit VaW -Anordnungen gesehen, die nicht nur tage-,
sondern wochenlang weitergelebt hatten. Oder er starb, und wenn die Familie zu
keiner Einigung gekommen war, würde sie mit dem Finger auf uns zeigen. Bei
einer unerwarteten Tragödie wollten die Leute immer irgendjemandem die Schuld
geben. Den Tod oder das Schicksal konnte man nicht bestrafen, aber das
Krankenhauspersonal sehr wohl.
»Das ist Winters letzte
Kernspin, von heute Morgen.« Meaty schlug einen Hefter auf und zog einen
Gehirnscan hervor. Man musste kein Neurologe sein, um zu erkennen, dass
irgendetwas nicht stimmte. An einer Stelle, wo normales Gehirngewebe sein
sollte, breitete sich ein groÃer, weiÃer Fleck aus. »Durch den Unfall und die
Blutung ist in seinem Schädel nicht mehr genug Platz, Bewusstsein ist also
unmöglich. Aber in seiner Familie sind nicht alle bereit, so etwas zu hören.
Verstanden?«
»Wachen vor der Tür, wackelige VaW , böse Blutung.
Verstanden«, nickte ich. Gina streckte die Hand über den Tisch, als wären wir
ein Highschool Footballteam vor dem Spiel. »Eins, zwei, drei, lasst euch nicht
zerfleischen. Loooos gehtâs!«
Da war ich voll dabei. Ich
legte meine Hand auf ihre, und wir klatschten sie gemeinsam auf den Tisch.
Kapitel 19
Â
Während
Gina den Ãbergabebericht einholte, sammelte ich die Materialien für sämtliche
Aufgaben zusammen, die sich uns heute Nacht stellen konnten. Plethysmografen,
Verbandsmaterial, antiseptische Tupfer, Etiketten für Probenröhrchen, ein
bisschen was von allem ⦠wie ein geisteskranker Weihnachtsmann stopfte ich
alles in einen leeren Kissenbezug. Falls etwas schiefging, mussten wir so nicht
ständig losrennen. Und mit den zusätzlichen Vorräten würde ich leichter eine
Gelegenheit finden, an etwas Blut zu kommen.
Mir war klar, dass ich mich
deswegen schlecht fühlen sollte oder zumindest innerlich zerrissen â aber die
Probleme
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