Visite bei Vollmond
mit den Schultern. »Tut mir leid, Kleiner.«
Der Fremde kam zurück. »Deine
Mutter ist unterwegs. Hast du Kleidung dabei?« Der Wolf lieà wieder den Kopf
hängen. »Tja, dann hoffen wir mal, dass sie dran denkt.«
»Wie wärâs mit OP -Kleidung?«, schlug Gina
vor.
»Hervorragend. Könnten Sie ihm
welche holen?«
Gina schaute erst mich an, dann
zu Winter. »Klar doch. Edie, du bleibst hier.«
»Aye-Aye, Captain.«
Gina ging mit dem Wolfswelpen
den Flur hinunter. Das wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, mir das Blut zu
besorgen, doch dieser andere Werwolf war mir im Weg. Er setzte sich in Ginas
Drehstuhl und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ich schätze, inzwischen
wissen Sie wohl, dass er hier ist.«
Ich schenkte ihm ein schwaches
Lächeln. »Ja.«
»Ich bin Lucas.« Er streckte
mir die Hand hin, und ich schüttelte sie.
»Edie.« Eigentlich hätte ich
gerne ein paar Werte kontrolliert, aber in Lucasâ Gegenwart wollte ich nichts
falsch machen. Besucher-Wachen machten mich leicht nervös. »Werden Sie die
ganze Nacht bleiben, als sein ⦠Wärter?«
Er grinste schief. »Wir nennen
es Nachtwache.«
»Aaah. Entschuldigung.« Unser
Schweigen wurde vom Zischen der Infusionspumpen und dem Geräusch der
Kompressionsmaschine, die an Winters gesundes Bein angeschlossen war,
überlagert.
»Glauben Sie, er wird sich
wieder erholen?«, fragte Lucas schlieÃlich.
Ich zögerte. Schlechte
Nachrichten musste man den Leuten langsam beibringen, wie wenn man einen
Schwimmanfänger vorsichtig ins tiefe Wasser lockt. Manchmal mussten sie auch
wieder und wieder damit konfrontiert werden, bis sie es realisierten.
»Ihr Schweigen sagt alles.«
Lucas lachte verbittert.
»Ich bin kein
Veterinärmediziner«, erklärte ich, »sondern nur eine Schwester.«
»Momentan ist er ein Mensch,
kein Wolf.«
Ich wählte meine Worte
sorgfältig und zeigte ihm damit das tiefe Wasser. »Ich glaube, Sie alle sollten
sich möglichst bald überlegen, welche Art von Leben er gerne führen würde. Und
was Sie sich für ihn wünschen würden.«
Lucas starrte blicklos in das
Krankenzimmer. »Wie taktvoll von Ihnen.«
»Tut mir leid.«
»Muss es nicht.« Er atmete tief
durch, so als würde er aus einem Traum erwachen. »Er muss nur bis Vollmond
durchhalten. Und dann muss der Mond ihn heilen. Er muss einfach.«
»Warum?«
Lucas zog eine Grimasse, die
ich nicht recht deuten konnte. »Sein Rudel braucht ihn.«
Ich hätte ihm gern noch mehr
Fragen gestellt, aber in diesem Moment erschien Gina im Zimmer, gefolgt von
einem barfüÃigen Jungen. »Da wären wir wieder.« Obwohl der Junge die kleinste OP -Kittel-GröÃe trug,
hingen die Ãrmel herunter, und Gina hatte die Hosenbeine hochgekrempelt. Der
Kleine hatte rabenschwarze, glatte Haare, die leicht strähnig waren. In seiner
Wolfsform hatten die rötlich-gelben Augen gut ausgesehen, doch jetzt schienen
sie fehl am Platz zu sein â sie wirkten einfach nur gruselig. Schüchtern
versteckte er sich hinter Gina. »Edie, das ist Fenris junior, Fenris junior,
das ist Edie.«
»Hi, Edie«, sagte Junior brav,
dann wandte er sich an Lucas: »War Mommy sauer?«
»Auf dich nicht.« Lucas stand
auf und deutete auf den Drehstuhl. Junior setzte sich, woraufhin Lucas ihn ein
Stück zur Seite rollte. »Vielleicht finden wir ja noch so einen. Die haben hier
bestimmt nichts dagegen, wenn wir drauÃen im Flur ein kleines Wettrennen
veranstalten.«
Fenrisâ Miene hellte sich auf.
Lucas wollte ihn gerade in Ginas Stuhl auf den Flur rollen, als Jorgen im
Türrahmen erschien. Mit einem finsteren Blick musterte er die beiden Werwölfe
und uns.
»Was ist los? Helen hat mich
gerade angerufen.«
»Du hast Junior hiergelassen,
ganz allein.«
»Ich musste einige Telefonate
führen, und dazu habe ich Ruhe gebraucht. Er war ja nicht lange allein.«
»Darum geht es nicht â er hätte
überhaupt nicht hier sein dürfen. Selbst als Wolf ist er hierfür noch zu jung,
Jorgen.«
»Er ist der Sohn seiner
Mutter«, erwiderte Jorgen. Lucas presste die Lippen zusammen.
Gina räusperte sich, um ihre
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Wir raten dringend davon ab, Kinder als
Besucher hierherzubringen.«
Der kahlköpfige Mann warf ihr
einen
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