Visite bei Vollmond
entdeckte, schenkte sie mir einen finsteren
Blick. Seufzend ignorierte ich sie und machte mich an die nächste Messung bei
Javier. Diesmal hatte sich die Lähmung nur wenige Millimeter weiter
ausgebreitet. Vielleicht lieà die Schwellung in seiner Wirbelsäule ja nach. Die
Markierungen auf seiner Haut gaben jedenfalls Anlass zu dieser Vermutung. Man
konnte nie wissen.
Irgendwie brachte ich die Zeit
bis zum Schichtwechsel rum. Luz versuchte die nächste Schwester zu überreden,
dass sie den Rest der Nacht bleiben durfte. Damit hatte ich gerechnet, doch sie
wurde abgewiesen, was beide ziemlich verärgerte â meine Ablöse, weil die
Angehörige überhaupt noch da war und darum bitten konnte, und Luz, weil sie
nicht bekommen hatte, was sie wollte.
Während ich das Krankenblatt
gegenzeichnete, lauschte ich ihrer hitzigen Diskussion. Diese Nacht würde für
alle Beteiligten noch sehr lang werden.
Auf dem Weg zu Y4 erkannte ich, dass der
Gedanke an den Feiertagszuschlag nicht mehr ausreichte, um mich aufrecht zu
halten. Ich war müde und hungrig, und die Sache mit Gideon, Dren und Jake hatte
dafür gesorgt, dass ich mich selbst nicht mehr leiden konnte. Alles in allem
reichte meine Kraft kaum noch aus, um den Kopf hochzuhalten.
Ich schlurfte in den
Umkleideraum und wechselte schnell die OP -Kleidung, um keine fremden Keime auf der
Station einzuschleppen. Als ob irgendetwas auf der Unfallstation fremdartiger
sein könnte als mein Job hier.
Gina kam rein, mit einem dicken
Mantel und einem Schwall Kälte von drauÃen im Schlepptau. Es überraschte mich,
sie hier zu sehen. »Dir ist schon klar, dass es nach Mitternacht keinen
Feiertagszuschlag mehr gibt, oder?«, fragte ich sie.
»Ja, weià ich.«
»Okay. Und, wie ist die groÃe
Sache gelaufen?«
Gina zog einen Schmollmund und
atmete tief aus. Dann streifte sie ihren Mantel ab. »Ich habe Weihnachten bei
meiner Familie verbracht, bin Brandon die ganze Zeit aus dem Weg gegangen. Dann
hat die Arbeit angerufen, und hier bin ich.«
»Wenn ich es nicht besser
wüsste, würde ich sagen, du zeigst die klassischen Anzeichen von
Vermeidungsverhalten. Oder einer sozialen Dysfunktion. Das bringe ich immer
durcheinander.«
Gina schlug mit einem
abfälligen Schnaufen ihre Spindtür zu. »Lass es lieber sein.« Als ich in
Richtung Tür verschwinden wollte, rief Gina mir hinterher: »Hey, Edie. Trotzdem
danke, dass du gefragt hast.«
»Kein Thema.«
Auf der Station war
Meaty weit und breit nicht zu sehen, aber hinter der Ecke bei den
Werwolf-Gehegen konnte ich mehrere Stimmen hören. Am Brett mit den
Schichtplänen suchte ich nach meinem Namen â ich war erneut Gina als Helfer bei
Winter zugeteilt, genau wie beim letzten Mal.
SchlieÃlich kam Meaty von den
Gehegen zurück, und gleichzeitig tauchte Gina hinter mir auf. »Spence, Martin,
Besprechung im Pausenraum, sofort.« Damit stapfte Meaty davon.
»Martiiin?«, fragte ich und
betonte Ginas Nachnamen mit dem gleichen Akzent wie Meaty. »Ich dachte immer,
du heiÃt einfach nur Martin.«
»Klar, weil du eine WeiÃe
bist.«
»Und warum hast du mich nie
korrigiert?«
»Weil ich ein fauler Mensch
bin.«
»Genau, deswegen bist du ja
auch so viel länger zur Schule gegangen als ich, nicht wahr, Frau Doktor der
Veterinärmedizin?«
Gina verdrehte die Augen.
»Dieser wundervolle Titel bedeutet doch nur, dass ich diejenige bin, die
dichter an den Zähnen steht.«
Wir gingen gemeinsam zum
Pausenraum. Meaty saà bereits am Kopf des Tisches und wartete auf uns.
»Wir müssen in diesem Fall alle
an einem Strang ziehen«, begann unsere Stationsschwester. »Zuallererst: Während
der Tagesschicht herrschte heute das reinste Chaos â deshalb müssen wir
versuchen, die Besucherzahl zu begrenzen: Familienmitglieder, Gaffer,
offizielle Respektbezeugungen â¦Â« Meaty gab ein angewidertes Geräusch von sich.
Uns war allen klar, dass Familienmitglieder, Gaffer, offizielle Respektbezeuger
oft ein und dasselbe waren. »Wir haben ihnen gesagt, dass nachts überhaupt
keine Besuche erlaubt sind, aber ich gehe davon aus, dass es morgen schon sehr
früh wieder losgehen wird. Und zweitens: Sie haben jetzt Wachen vor seiner Tür
postiert.«
»Sie trauen uns nicht?«, vermutete
Gina.
»Harscher Schnee traut
niemandem, nehmt das nicht persönlich. Stellt euch einfach
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