Visite bei Vollmond
meinen
Kollegen auf den Flur folgen, doch sie rief mir hinterher: »Edie â du bleibst.«
Meine Neugier war längst
Schuldgefühlen und Entsetzen gewichen, aber ich tat, was man mir befahl.
Sike setzte sich neben
Gideon aufs Bett und wischte angewidert das Desinfektionsmittel mit einem
Zipfel des Lakens von seiner Haut. Dann holte sie eine Puderdose aus ihrer
Handtasche und klappte sie auf. Darin schien sich cremefarbener Rouge zu
befinden.
»Gib mir deine Hand, Gideon.«
Sie drückte ihren rechten
Daumen in die Substanz und trug sie rund um seine Wunden auf die Haut auf. Die
Fingerstümpfe schlossen sich, einer nach dem anderen. An dieser Hand waren ihm
nur die untersten Fingerglieder geblieben. Mit kranker Faszination fragte ich
mich, was von der anderen noch übrig sein mochte.
»Sike? Was ist passiert?«
»Um Mitglied des Sanguiniums zu
werden, muss man einige Prüfungen bestehen.« Sie fuhr damit fort, die seltsame
Substanz, die offensichtlich auf Vampirblutbasis beruhte, wie eine Salbe auf
Gideons Hand aufzutragen.
Das ganze Ausmaà seiner
Situation überwältigte mich. Er hatte keine Finger mehr. Und Gott allein
wusste, was die Mullbinden auf seinem Gesicht verbargen. »Wer hat das getan?«
»Wenn ich das wüsste, würde ich
ihn auf der Stelle töten. Anna hat geschlafen, als er so zugerichtet wurde, und
er hat seine Angreifer nicht gesehen.« Sie war mit Gideons Hand fertig und
wollte nun sein Gesicht auswickeln. »Er war ihr erster Tageslichtagent.
Ersetzte ihr Augen und Ohren â¦Â«, fügte sie hinzu, als sein Gesicht schlieÃlich
freilag. Seine Augenhöhlen waren leere Krater und seine Ohrmuscheln fehlten.
»Und jetzt ist er so hilflos wie ein kleines Vögelchen.«
»Aber wieso?«
»Weil sie ihn erwählt hat.«
»Ich dachte, die Vampire
verehren Anna.«
»Bei uns wird Verehrung immer
mit Furcht erkauft.« Wieder nahm sie mit dem Daumen Salbe auf, dann drückte sie
ihn in die Ãffnung einer feuchten Augenhöhle. Ich musste tief durchatmen, um
meinen Magen unter Kontrolle zu halten.
»Dann ist der Thron der Rose
also keine groÃe, glückliche Vampirfamilie?«
»Die Worte glücklich und Familie gehören nicht in denselben Satz wie das Wort Vampir .« Sie strich über die
Konturen seiner verstümmelten Ohren. »Aber das hier waren wir nicht. Der Thron
der Rose begrüÃt Annas Aufstieg zur Erhabenen. Das hier war jemand anders.«
»Aber wer? Und wieso?«
»Sobald ich hier fertig bin,
werde ich versuchen, das herauszufinden.«
Ich schluckte schwer.
Eigentlich sollte ich in diesem Moment nicht an mich selbst denken, aber ⦠»Wer
auch immer es war â könnte er auch hinter mir her sein?«
Sike unterbrach ihre
Behandlung. »Ich vermute, das hier sollte zur Demonstration dienen. Einen
Tageslichtagenten zu verletzen ist ein wesentlich gröÃerer Affront, als einfach
nur einen Menschen zu töten. Nichts für ungut.«
»Kein Problem. Aber irgendwie
fühle ich mich durch diese Erklärung nicht wesentlich sicherer.«
»Du verstehst das nicht, Edie.
Anna hört ihn weinen â in ihrem Geist.« Sike befreite Gideons andere Hand von
ihrem Verband und begann, sie zu verarzten. »Ihn nicht umzubringen ist in
diesem Fall schlimmer als der Tod.«
»Dann verwandelt ihn doch in
einen Vampir«, schlug ich vor. Genau das hatte er doch gewollt â alle
Tageslichtagenten wollten es.
»Bei einem Menschen kann
Vampirblut nur gewisse Verletzungen heilen. Und es gibt Verletzungen, die
selbst die Verwandlung zum Vampir nicht heilen können. Fehlendes Fleisch kann
man nicht nachwachsen lassen â was zu Lebzeiten verloren ging und nicht geheilt
wurde, bleibt verloren. Würdest du ewig leben wollen, in seinem jetzigen
Zustand?«
Plötzlich musste ich an Dren
denken, der wegen des Verlusts seiner Hand wohl ewig wütend auf mich sein
würde. Und an die Aufgabe, die er mir für heute gestellt hatte. Ich schüttelte
stumm den Kopf, woraufhin sie nickte. »Du verstehst, was ich meine.«
Sike klappte die Puderdose zu
und steckte sie ein. Dann wickelte sie Gideon wieder in die blutverschmierten
Verbände.
»Ich kann euch wenigstens
saubere Mullbinden holen«, bot ich an.
»Das spielt jetzt keine Rolle
mehr.« Sie stand auf. »Folge mir, Gideon.«
Er stand auf und tappte wie ein
verkrampfter, aber
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