Visite bei Vollmond
notwendigen Utensilien zusammen. Lucas ging ohne Schutzkleidung in den Raum
â was sollte ihm auch passieren, wenn er gebissen wurde? Mehr als Werwolf ging
ja schlecht. Aber allein in einem Raum mit zwei Werwölfen ⦠plötzlich schien
mein Schutzkittel groÃe Ãhnlichkeit mit einem roten Mäntelchen zu haben.
»Wie war er denn so, aus Ihrer
Sicht?«, fragte ich, während ich mich dem Bett näherte.
»Vor allen Dingen Furcht
einflöÃend.« Lucas stand rechts neben Winter, und ich gesellte mich zu ihm.
»Als ich noch klein war, habe ich meine Mutter an Halloween einmal gefragt, ob
ich mich als er verkleiden dürfte.«
»So schlimm?«
»Sogar noch schlimmer.«
Kopfschüttelnd musterte Lucas Winters reglosen Körper. »Er war bereit, alles zu
tun, nur um seinen Willen durchzusetzen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen
sollte. »Tut ⦠mir leid.«, versuchte ich es.
»Er war der perfekte Leitwolf«,
erklärte Lucas, als wäre ich gar nicht da. »Hat sich um nichts und niemanden
sonst geschert â das Rudel war sein Leben. Alles für das Rudel. Er musste hart
sein. Manchmal sogar grausam.« Zögernd berührte Lucas Winters Gesicht. Wir
hatten ihn seit seiner Einlieferung noch nicht rasiert, und der leichte
Schatten auf seinen Wangen wurde langsam zu einem richtigen Bart. »Verdammt
noch mal, er hat so lange gelebt. Er sollte nicht sterben.«
Ich deckte eine von Winters
Händen auf. Solange Lucas durch seine Trauer abgelenkt war, würde ich den
Schnitt am Finger vornehmen und ⦠»O nein.«
»Was?« Sofort richtete Lucas
seine volle Aufmerksamkeit auf mich. »Was ist los?«
»Wahrscheinlich steht es schon
in der Akte. Ich wusste nur nicht â¦Â« Winters Fingerspitzen waren schwarz
angelaufen. Durch die Blutdruckmedikamente und vor allem bei der Dosis, die er
bekam, retteten wir nur die lebenswichtigen Organe â auf Kosten des restlichen
Körpers. Wenn wir seine Dosis nicht bald reduzieren konnten, wenn der Mond ihn
nicht heilte, wenn er nicht aufwachte und die Blutdruckregulierung in seinem
Körper nicht wieder anfing zu arbeiten ⦠dann würde er beide Hände verlieren.
Und das verbliebene Bein.
Lucas kniff die Augen zusammen.
»Das ist schlimm, oder?«
»Ja. Es tut mir leid.«
Lucas beugte sich über das
Bett, bis sein Gesicht dicht vor dem von Winter schwebte. »Du darfst nicht
sterben. Hörst du mich? Du darfst nicht sterben.«
An der Tür hüstelte jemand.
»Ist der Zeitpunkt ungünstig?«
Lucas und ich schauten hoch. Im
Türrahmen stand ein Mann mit dem Rücken zum Licht, dem ich bis jetzt noch nicht
begegnet war. Lucasâ Hände krampften sich so fest um den Handlauf an der
Bettseite, dass das gesamte Gestell wackelte. »Viktor.«
»Ich komme also ungelegen?« Der
fremde Mann â oder schätzungsweise Werwolf â betrat das Zimmer.
Meine Aufgabe als Krankenschwester
wäre eigentlich gewesen, die beiden zu beruhigen â aber vielleicht war das hier
die einzige Gelegenheit, um an das Blut für Dren zu gelangen. Einen Moment lang
war ich hin- und hergerissen, dann stach ich heimlich mit der Lanzette in Winters
noch gesunde Handfläche.
»Wie hast du es angestellt,
Viktor?« Mit einem letzten Scheppern lieà Lucas das Bett los und drehte sich
zur Tür um. »Konntest du nicht warten, bis er von alleine abtritt?«
»Ich? Ich weià von nichts.«
Viktor hob voller Unschuld eine Hand an die Brust. »Ich habe gerade erst vom
Zustand des GroÃartigen erfahren.«
Ich packte Winters Hand und
drückte fest zu, um das Blut herauszupressen. Ich brauchte nur einen Tropfen.
Einen verdammten Tropfen â¦
»Er war auch mein Anführer«,
fuhr Viktor fort. »Ich habe ebenso das Recht, ihm meinen Respekt zu zollen, wie
du.«
»Verschwinde.« Lucasâ Stimme
glich einem Knurren. »Du warst es. Ich weià nicht wie, aber irgendwie hast du
es angestellt â¦Â«
Man brauchte keine
übernatürlichen Kräfte, um die Spannung zu spüren, die sich im Raum aufbaute,
offenbar genährt durch die gemeinsame Geschichte der beiden Werwölfe. Natürlich
konnte ich den Notfallknopf an der Wand drücken und damit zwanzig weitere
Pflegekräfte auf den Plan rufen, aber dann würde ich mein Blut nicht kriegen â¦
Aus dem Lanzettenstich quoll
ein dicker Tropfen hervor.
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