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Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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nach dem anderen in den Mund
schieben. Manchmal waren diese zarten alten Damen so ausgehungert und so lange
nicht mehr mit Geduld gefüttert worden, dass es einem die Tränen in die Augen
treiben konnte. Sobald ein Mensch die Fähigkeit verlor, sich eigenständig zu
ernähren, war das der Anfang vom Ende. Doch nicht für Gideon, worüber ich auch
fast Tränen vergossen hätte.
    Ich fütterte ihn, bis er nichts
mehr wollte, und fühlte mich anschließend wie ein besserer Mensch. Wenigstens
eine Sache war heute richtig gelaufen – und seit ungefähr einer Stunde hatte
auch niemand mehr versucht, mich umzubringen.
    Â»Dann wollen wir doch mal sehen,
was das Schicksal für uns bereithält«, verkündete ich wie nach jedem
chinesischen Essen, auch wenn ich dabei meistens nur mit Minnie sprach. Ich
knackte die beiden Glückskekse wie Walnüsse und fischte die Zettelchen aus den
Kekskrümeln.
    Â»Das hier ist deins, Gideon«,
erklärte ich. »Jetzt ist nicht die Zeit, um
Münzen zu umkreisen.«
    Gideon legte fragend den Kopf
schief.
    Â»Kein Scherz, genau das steht
hier. Wir sollten diesen Keks umtauschen.« Mit einem empörten Schnauben nahm
ich meinen Zettel zur Hand. » Sie werden einem
großen, dunklen Fremden begegnen. Wie originell, vielen Dank auch, Glückskeks.«
    In diesem Moment wäre es mir am
liebsten gewesen, nie wieder irgendwelchen Fremden zu begegnen. Ich zerknüllte
die Prophezeiung und warf sie weg. Wenigstens enthielt sie keine finsteren
Gassen. Oder Messer.
    Ich stellte unsere
Teller zum Weihnachtsgeschirr, das ich noch abspülen musste, und überlegte
anschließend, wie ich mir nun die Zeit vertreiben sollte. Gideon okkupierte
nach wie vor das Sofa, und in meinem Schlafzimmer rumzuhängen, wo mich nur eine
Schranktür von Veronica trennte, klang nicht besonders lustig.
    Ich beschloss, mich
zusammenzureißen, den Klappstuhl aus dem Garderobenschrank zu holen, mich in
eine Ecke zu setzen und im Internet zu surfen. Minnie kam und machte deutlich,
dass sie das wunderbar fand, zumindest wenn sie dabei auf meinem Schoß Platz
nehmen durfte. Es war mir gerade gelungen, Katze und Laptop richtig zu
positionieren, als mein Handy klingelte.
    Â»Tut mir leid, Minnie.« Ich setzte
sie zurück auf den Boden und stellte den Laptop neben die Katze. Vielleicht
waren es ja Anna oder Sike, die mich zurückriefen, um mir ein paar schlüssige
Erklärungen zu liefern. Wurde auch Zeit. Doch als ich das Telefon endlich
gefunden hatte, zeigte es mir eine Nummer an, die ich nicht kannte.
    Â»Hallo?«
    Â»Edie? Hier ist Gina.«
    Â»Hi! Was ist los?« Sofort ging
ich in Gedanken alles durch, was ich in der kurzen Zeit, als ich mich allein um
Winter gekümmert hatte, falsch gemacht haben könnte. »Habe ich etwas verbockt?«
    Â»Neeeeiiiiin, so ein Anruf ist
das nicht.« Ihre Stimme klang etwas schleppend. Dann schwieg sie.
    Â»Geht es dir gut?«, fragte ich
schließlich.
    Â»Ja!«, rief sie trotzig. Wieder
Schweigen. »Nein. Ich habe mich mit Brandon gestritten.« Als sie seinen Namen
aussprach, wurde ihre Stimme schrill. »Ich glaube, wir haben gerade Schluss
gemacht.«
    Ich zuckte mitfühlend zusammen.
»Oh, Gina, das tut mir so leid.«
    Â»Es ging einfach nicht anders,
weißt du? Es gab zwar mildernde Umstände, aber …«
    Â»Wo bist du gerade? Du solltest
jetzt nicht allein sein.« Blieb noch die unbedeutende Frage, warum sie mich
angerufen hatte, und nicht einen ihrer anderen Freunde, vorausgesetzt sie hatte
andere Freunde, was besser für sie wäre. Wir konnten schließlich nicht alle von
der Insel der Außenseiter stammen. Im Hintergrund war es ziemlich laut.
Stimmen, Musik. Sie brüllte eine Adresse in den Hörer, die ich sofort bei
Google Maps eingab. Nur zwanzig Minuten stadteinwärts. »Okay, ich bin gleich
bei dir, hörst du?«
    Â»Alles klar, danke. Ich schulde
dir was.«
    Â»Kein Problem.« Meinetwegen
wäre Gina schon einmal fast gestorben. Das hier war das Mindeste, was ich tun
konnte.

Kapitel 25
    Â 
    Bevor
ich ging, zog ich den Gürtel mit der Silberschnalle über meinen alten Mantel
und schickte Peter ein stummes Dankeschön. Ich hatte keinen Drucker, und das
Navigationssystem in meinem Handy funktionierte bei der dichten Wolkendecke
nicht richtig, also schrieb ich mir den Weg auf und sah mir die entsprechende
Straße

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