Visite bei Vollmond
immer noch winkend wie ein Bodenfluglotse. Irgendwann gab er auf und
wurde von der Dunkelheit verschluckt.
Diesmal erwischte ich die
Abzweigung zum Freeway und fuhr auf dem schnellsten Weg zur Arbeit.
Ich stellte den Wagen
auf dem Besucherparkplatz ab und vertraute darauf, dass die Schatten mich
beschützen würden, solange ich mich auf dem Klinikgelände befand. Warum trieb
sich Viktor in der Innenstadt herum? War dieses Treffen Zufall gewesen, oder
hatte er mich verfolgt? War Jake in Sicherheit? Ich hätte Anna bitten sollen,
ihn ebenfalls zu schützen. Erst als ich im Aufzug stand und Richtung Y4 fuhr, kam mir eine
Idee.
Aus einem Impuls heraus drückte
ich auf den Stopp-Knopf und schaute zur Decke hoch. »Hey.« Mit der freien Hand
klopfte ich gegen die Kabinenwand. »Seid ihr da, Schatten? Klopf, klopf.« Eine
Weile wartete ich schweigend, dann seufzte ich. Nichts. Aber ich war mir
sicher, dass sie mir zuhörten. »Ihr solltet ihn besser auch vor Werwölfen
beschützen«, sagte ich Richtung Decke. Dann lieà ich den Stopp-Knopf wieder
los.
Ich war eine Stunde zu früh auf Y4 .
Während ich ganz hinten im Kühlschrank nach meiner Notfall-Cola suchte, kam
Charles in den Pausenraum.
»Hi, Edie. Haben sie dich auch
angerufen?«
»Ich war sowieso in der Gegend,
auÃerdem ist das Wetter ziemlich übel, da hätte es keinen Sinn gehabt, noch mal
nach Hause zu fahren«, log ich. »Warum, ist viel los heute?«
»Wann nicht?« Charles schob
sich an mir vorbei, holte eine Käsetasche aus dem Tiefkühler und legte sie in
die Mikrowelle, während ich meine Dose aufmachte. »Letzte Nacht sind jede Menge
Spender gekommen. Wofür zum Teufel brauchen die das ganze Blut?«
Nach meiner kleinen
Unterhaltung mit Anna hatte ich da so eine Ahnung. Ich setzte mich; immerhin
hatte meine Schicht offiziell noch nicht begonnen. »Sag mal, Charles, haben die
Schatten dich jemals hängen lassen?«
Er drehte sich zu mir um.
»Warum fragst du?«
»Diese Narbe, die du mir
gezeigt hast. Damals haben sie dich nicht beschützt, oder? Aber ⦠was auch
immer du dagegen eingetauscht hast ⦠die Schatten haben sich an die Abmachung
gehalten, oder?«
»Ja.« An der Mikrowelle hinter
ihm liefen die Sekunden rückwärts.
»Darf ich fragen, was es war?«
Er musterte mich nachdenklich
und stieà dann einen tiefen Seufzer aus. »Meine Frau brauchte eine
Herztransplantation. Und sie stand ziemlich weit unten auf der Liste.«
»Und ⦠die Schatten haben dafür
gesorgt, dass sie ganz oben landete?«
»Nein. Ihr ging es einfach
plötzlich besser.«
»O Gott.« Seine Frau â das
bedeutete, dass er nie aufhören durfte, auf Y4 zu arbeiten. Und falls er es doch tat, stieg
die Wahrscheinlichkeit, dass sie sterben würde. Das war um einiges grauenhafter
als die Falle, mit der die Schatten mich dazu gebracht hatten, für sie zu
arbeiten. Immerhin gab es für mich die kleine Chance, dass Jake irgendwann
endgültig beschloss, clean zu bleiben â¦
Als die Mikrowelle piepte,
fischte Charles die Käsetasche heraus. »Und wie haben sie dich erwischt?«
»Mein Bruder. Er ist die
reinste Katastrophe: Junkie, obdachlos, planlos.« Ich wünschte, ich könnte mich
Charles ganz anvertrauen, aber mir war klar, dass ich das nicht tun durfte. Er
hatte auch so schon genug eigene Probleme â auÃerdem hatte er mich ausdrücklich
vor den Werwölfen gewarnt. »Im Moment kommt einfach so viel zusammen, dass ich
mir wieder Sorgen um ihn mache.«
»Na ja, ich kann die Schatten
zwar nicht ausstehen, aber ich denke nicht, dass sie heimlich die Segel
gestrichen haben. Das Krankenhaus ist eine exzellente Futterstelle. Warum
sollten sie weggehen?« Er biss in seinen Snack und zischte, als heiÃer Dampf
herausquoll.
»Ich fasse es nicht, dass ein
erwachsener Mann immer noch dieses Zeug isst.«
»Falls du jemals meiner Frau
begegnen solltest, darfst du mich nicht verpetzen. Sie macht mir Sandwiches,
aber auf dem Weg zur Arbeit hole ich mir trotzdem ständig diese Dinger.« In
seiner Tasche klingelte es. »Wenn man vom Teufel spricht«, sagte er grinsend
und holte das Handy heraus.
»Wartet sie jede Nacht auf
dich?«
»Sie ist auch ein Nachtmensch.
Wir sind eben ein gutes Team.«
Ich musste lächeln. Es war
schön zu sehen, dass Beziehungen manchmal eben doch
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