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Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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sie war schließlich der Wolf von uns beiden. »Man nennt das
Nekrose.«
    Â»Wie kriegen Sie nur diesen
Geruch wieder aus der Nase?«
    Â»In einem Krankenhaus gibt es
jede Menge schlechte Gerüche, man gewöhnt sich daran.« Das war untertrieben.
Manche Leute schmierten sich Zahnpasta in die Schutzmaske, andere atmeten
ausschließlich durch den Mund. Man lernte, dass Rasierschaum den Gestank
linderte, wenn man einem Obdachlosen die Füße wusch, oder man stellte in
gewissen Zimmern Nelkenöl auf, das die Klinik sogar bezahlte. Allerdings musste
man es möglichst hoch platzieren, damit die oft alkoholkranken Patienten es
erst dann fanden, wenn sie wieder nüchtern genug waren, um zu erkennen, dass es
nicht trinkbar war. Aber Nekrose stank am schlimmsten, und abgesehen von
Wundausschneidung oder Amputation gab es kein Mittel dagegen. Sie roch wie ein
Kühlschrank voll vergammelter Lebensmittel, die einen ganzen Tag in der prallen
Sonne gelegen hatten. An einem schwülen Junitag. Der Geruch brannte sich in die
Nase ein. An Nekrose konnte man sich nicht gewöhnen, man konnte nur einen
möglichst weiten Bogen darum machen.
    Ich wollte mir gar nicht erst
vorstellen, wie es wäre, mit einer extrem sensiblen Nase das Krankenhaus zu
betreten: die Säufer, die völlig verdreckt hier reinkamen, die Besucher mit
ihren Deos und Parfüms, allein schon das Bohnerwachs hier … »Es muss wirklich
schrecklich für Sie sein«, sagte ich schließlich.
    Â»Ist es auch. Aber ein wenig
Freundlichkeit hilft schon.« Helen sog den Duft des Kaffees wie Sauerstoff in
sich auf. Dann lächelte sie. »Freundlichkeit und andere, angenehmere Gerüche.«
    In ihrem Blick lagen so viel
Offenheit und Vertrauen – es widerstrebte mir, sie um Hilfe zu bitten, das war
einfach nicht fair. Sie war fast genauso eine Patientin wie Winter. Vielleicht
konnte ich ja einfach Gideon in meinen Kofferraum stopfen und darauf vertrauen,
dass sein Anblick alle Angreifer abschrecken würde. Bevor ich etwas Dummes
sagen oder denken konnte, platzte ich mit einer Frage heraus: »Wie alt ist
Fenris?«
    Â»Junior ist zwölf, er geht in
die fünfte Klasse.«
    Â»Er ist ein wirklich niedlicher
… äh … ich meine, schöner Wolf.«
    Helen lachte. »Danke. Er ist
nicht immer einfach, aber ich liebe ihn über alles. Das geht allen so. Es ist
wirklich nett von Lucas, dass er extra hergekommen ist, um die Stellung für ihn
zu halten.«
    Wir gingen die Treppe hinunter
in Richtung Eingang. »Werden die Kinder bei Ihnen zu Hause unterrichtet?«
    Â»Nein. Mein Rudel vertritt eine
Philosophie der gezielten Integration in Kombination mit strikter Kontrolle.
Rudel, die sich isolieren, verlieren irgendwann die Möglichkeit, ihr
wirtschaftliches Überleben zu sichern. Bei Vollmond tollen wir vielleicht im
Park herum, aber im Alltag sind wir produktive Bürger, zahlen Steuern und
nutzen die öffentlichen Straßen.« Es klang so, als hätte sie diesen Vortrag
schon oft gehalten, außerdem lief sie jetzt ohne Stütze. Anscheinend hatte
unser Gespräch ihr neue Kraft verliehen – oder der Kaffee.
    Wo wir gerade beim Thema
Straßen waren … »Wo kam ihr Vater eigentlich her, als der Unfall passierte?«
    Sie ging die letzte Stufe
hinunter, bevor sie sich achselzuckend zu mir umdrehte. »Ich weiß es leider
nicht.«
    Â»Es sah für mich nämlich so
aus, als käme er aus dem Krankenhaus.« Er hatte an derselben Ecke gewartet wie
Charles und ich, als wir in die Mittagspause gegangen waren.
    Â»Tatsächlich?« Sie klang
überrascht.
    Â»Irgendwie schon, ja.«
Natürlich gab es in diesem Block noch andere Gebäude.
    Helen ließ den Kopf hängen, und
ihre Schultern sackten zusammen. »Das werden wir jetzt wohl nie mehr erfahren«,
sagte sie traurig.
    Wir hatten die Eingangshalle
erreicht. Wie immer war sie voller Besucher und Stadtstreicher. Einige der
Leute standen auf, als Helen eintrat. Irgendjemand flüsterte »Mutter Helen«,
und schnell bildete sich eine Traube um sie herum, manche streckten Helen sogar
die Hände entgegen, als wäre sie ein umjubelter Popstar. »Wie geht es ihm? Gibt
es Neuigkeiten?« Es war eine bunt gemischte Gruppe: der eine sah aus wie ein
Biker, ein anderer fast wie ein Obdachloser, eine Dritte war eine klassische
Fußballmami, und dann waren da noch drei verschiedene

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