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Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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nichts?«
    Â»Das bezweifle ich. Außerdem
brauchen Sie doch bestimmt eine Pause. Gehen wir ein Stückchen.« Ich griff nach
ihrem Arm.
    Helen klammerte sich an mich.
Es überraschte mich, dass körperliche Nähe ihr überhaupt nichts auszumachen
schien – mein Wohlfühlbereich war bei Fremden wesentlich größer, es sei denn,
ich plante mit ihnen ins Bett zu gehen. Aber ich wollte auf keinen Fall die
Chance verpassen, sie um Zuflucht zu bitten – außerdem hatte ich das Gefühl,
dass Rachel umso zufriedener mit mir sein würde, je länger ich Helen von der
Station fernhielt.
    Â»Fenris Junior ist im Bett, und
ich wusste nicht, wo ich sonst hin sollte«, erklärte Helen, als wir Arm in Arm
die Gehege verließen. Ich nickte, was sie allerdings wohl nicht sehen konnte.
»Haben Sie schon einmal jemanden verloren?«, fragte sie mich.
    Nein. Aber ich kannte das
Gefühl, dabei zusehen zu müssen, wie gewisse Leute einen verließen – wieder und
wieder und wieder. Doch keine Todesfälle bisher. »Nein.«
    Â»Es ist schrecklich.« Sie
drückte mich wie zur Bestätigung und legte mir eine warme Hand auf den Arm. Ich
mochte es nicht, im Krankenhaus von anderen berührt zu werden, vor allem nicht,
wenn ich nicht wusste, wann sie das letzte Mal ihre Hände desinfiziert hatten.
Aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Sie machte gerade eine Menge
durch, musste mit ansehen, wie ihr Vater starb – und nur weil ich abgestumpft
war, musste es ja nicht allen so gehen. Ich drückte sie zwar nicht an mich,
aber ich hielt sie doch so fest, dass sie sich an meiner Seite entspannte.
    Â»Der Tod meines Mannes war eine
Tragödie, aber wenigstens ging es schnell. Der Tod meines Vaters löst eine ganz
andere Art von Schmerz in mir aus.« Sie blieb dicht neben mir.
    Ich kam mir etwas gefangen vor,
gab aber weiterhin mitfühlende Laute von mir. Helen atmete tief ein und
schniefte ein wenig. O Gott, was sollte ich nur tun, wenn sie jetzt anfing zu
weinen? Doch sie seufzte nur schwer, drückte sich noch fester an mich und legte
den Kopf an meine Brust. Weiterzugehen war jetzt etwas schwierig geworden.
    Â»Soll ich … den Kaffee
herbringen?« Scheiß auf Rachels Anordnung und die Bitte um Zuflucht; ich würde
bestimmt nicht eine heulende Frau durch das halbe Krankenhaus zu dem blöden
Automaten schleppen.
    Â»Nein, es wird mir guttun, ein
paar Schritte zu gehen. Mal hier rauszukommen«, sagte sie irgendwo unterhalb
meiner rechten Schulter. Dann hob sie den Kopf und trat einen Schritt zurück.
»Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
    Â»Ist schon okay.« Erschreckend
hätte ich es nicht genannt, eher gruselig oder aufdringlich.
    Â»Wir finden für gewöhnlich
beieinander Trost. Ich bin nicht oft alleine. Eigentlich war ich in meinem
gesamten Leben fast nie allein.« Helen schaute in die Richtung, aus der wir
gekommen waren. »Und jetzt … verändert sich alles.«
    Â»Es tut mir leid.« Die Stelle,
an der sie sich festgehalten hatte, war noch warm. Unter anderen Umständen wäre
diese Nähe vielleicht angenehm gewesen, wenn sie zum Beispiel eine Verwandte
gewesen wäre. Ich wollte unbedingt das Richtige tun, auch wenn es sich
merkwürdig anfühlte. Also tätschelte ich tröstend ihren Arm. Ich wusste nicht,
wie ich ihr sonst helfen sollte.
    Sie nahm meine Hand in ihre und
schenkte mir ein schwaches Lächeln. »Danke, dass ich mich an Ihnen festhalten
darf.«
    Damit kam ich klar. »Okay.«
    Wie kleine Mädchen
gingen wir Hand in Hand zur Cafeteria. Die war zwar geschlossen, aber vor dem
Eingang standen ein paar Automaten. Helen holte sich einen Kaffee, und wir
sahen gemeinsam zu, wie sich der Plastikbecher füllte. »Wenn man klein ist,
erzählen sie einem lehrreiche Geschichten über den Mond«, sagte Helen
plötzlich.
    Â»Was denn zum Beispiel?«
    Â»Na ja, der Mond sieht alles,
weiß alles, heilt alle Wunden. Was ihnen gerade nützlich erscheint – so sind
Erwachsene eben«, erklärte sie, als wäre sie nicht auch eine von ihnen. »Bis
heute habe ich immer gedacht, dieser letzte Aspekt wäre wahr. Ich hatte noch
nie eine Wunde, auf die der Mond keinen Einfluss gehabt hätte. Aber man muss
kein Werwolf sein, um den Gestank des Todes an meinem Vater wahrzunehmen.«
    Ich hatte bis jetzt noch nichts
gerochen, aber

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