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Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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Variationen von ergrauten
Köpfen.
    Ihre Aufmerksamkeit schien
Helen neues Leben einzuhauchen. Wie eine welke Blume, die man ins Wasser
stellt, richtete sie sich plötzlich auf. Ich fragte mich, wie viel davon echt
war – die Anwesenheit von Freunden konnte in schweren Zeiten natürlich helfen –, und wie viel dem Gefühl entsprang, Stärke repräsentieren zu müssen.
Vielleicht war der Unterschied zwischen Helen und Luz ja gar nicht so groß.
    Helen stand in der Gruppe wie
Mutter Teresa und streichelte und umarmte ihre Rudelgefährten entweder einzeln
oder zusammen. Eine bessere Gelegenheit, sie um Schutz zu bitten, würde ich
wohl nicht mehr kriegen – auch wenn ich das Gefühl hatte, damit einen intimen
Moment zwischen ihr und ihren Leuten zu zerstören. Ich hatte hier nichts zu
suchen, sie waren eindeutig nicht meine Freunde – das erkannte ich an ihren
Blicken. Noch mehr als Besucher hasste ich das Gefühl, selbst einer zu sein.
    Ich stand am Rand der Gruppe,
deshalb räusperte ich mich hörbar. »Helen … ich weiß, das ist nicht der beste
Zeitpunkt, aber …«
    Die Eingangstüren öffneten
sich, und eine Frau in einem Parka kam herein. Sie hatte die Kapuze ins Gesicht
gezogen. Entschlossen ging sie am Tisch des Wachmanns vorbei und drehte sich
suchend um. Mein Dienstausweis flackerte auf wie die Kerzen auf einer
Geburtstagstorte.
    Ich schob mich mitten zwischen
die Werwölfe und packte Helens Arm. »Zuflucht – bitte!«
    Vollkommen überrascht drehte
Helen sich zu mir um. Hinter ihr ließ sich die Frau im Parka derweil auf alle
viere sinken. Ein Mensch konnte sich unmöglich so bewegen; sie schlurfte nicht
unbeholfen wie ein Werwolf aus einem alten Horrorfilm, sondern glitt dahin,
wurde immer schneller und sprang schließlich über die orangefarbenen Sofas, die
ihr im Weg standen. Ihr Mund öffnete sich so weit, dass ich ihre Zähne sehen
konnte, Zähne, die irgendwie falsch waren. Zähne, die im selben Tempo wuchsen
wie ihre Besitzerin auf mich zustürmte.
    Â»Nicht rennen!«, rief der
Wachmann ihr hinterher.
    Â»Zuflucht!«, flehte ich.
    Â»Zuflucht?«, fragte Helen, als
hätte sie mich nicht verstanden. Dann drehte sie sich um. Ich hatte keine
Ahnung, ob die Luft in der Halle in Bewegung geraten war oder ob ihre
Werwolfsinne ansprangen, jedenfalls stieß sie ihre Rudelgenossen heftig von
sich und verwandelte sich.
    Noch bevor ihr Kaffeebecher den
Boden berührte, stand anstelle der blonden Frau in mittleren Jahren, die ihre
vielen Verluste gezeichnet hatten, ein gelblich-grauer Wolf. Helens neue Form
wartete geduckt, bis die Parka-Frau zum letzten Sprung ansetzte, und flog ihr
dann entgegen.
    Grelles, flackerndes Licht
erfüllte die Halle.
    Für den Bruchteil einer Sekunde
waren überall Farben: die orangefarbenen Sofas, die abstrakten Gemälde an den
Wänden. Dann wurde alles schwarz. Ein Werwolf neben mir fing an zu heulen.
Durch die Oberlichter der Lobby drang Mondlicht in die Halle. Die Schwärze war
wie ein Nebel, kalter, feuchter Dunst, der ein wenig nach Verdauungssäften
roch. Dann kehrten die Farben zurück.
    Helen hatte den Sprung als
einzige vollendet. Sie spreizte die Pfoten, um bei der Landung das
Gleichgewicht zu halten, und schabte mit den Krallen über das Linoleum. Die
Frau mit dem Parka war verschwunden.
    Â»Keine Kämpfe auf Leben und Tod
in unserem Revier«, flüsterte etwas definitiv Nicht-Menschliches, bevor der
seltsame Geruch nach Magensäure verschwand.
    Weder der Wachmann noch die
anderen Besucher in der Eingangshalle reagierten, nur die Werwölfe, die eine
nun splitternackte Helen umringten und mit den Füßen ihren leeren Plastikbecher
wegschoben. Wie nett von den Schatten, dass sie die Kaffeelache ebenfalls
entfernt hatten. Typisch, typisch, stets auf Sicherheit bedacht.
    Trotz ihrer Nacktheit war Helen
völlig beherrscht, als sie ein nachdenkliches Knurren ausstieß. »Eine von
Viktors Frauen, ganz sicher.«
    Â»Ich bin ihm heute in der
Innenstadt begegnet«, erklärte ich. »In der Nähe des Depots.«
    Helen wandte sich an ihre
Leute: »Drei von euch, los.«
    Die drei, die am äußersten Rand
der Gruppe standen, lösten sich von den anderen und liefen zur Tür, ohne sich
um den Wachmann zu kümmern.
    Der Rest von ihnen machte
einfach weiter, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Sie zogen

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