Vita Nuova
Treppe hinauf lauschte der Maresciallo, hörte aber kein Weinen von oben. Und während er lauschte, dankte er dem Himmel, dass er sich mit der Schwester hier oben verabredet hatte und nicht in diese dunkle Kellerküche musste – er durfte nicht vergessen zu fragen … dieses Gesicht, das er nur als Schatten wahrgenommen hatte. Hatte Silvana gestern nicht gesagt, dass sich nur sie und ihre Mutter im Haus aufgehalten hatten? Bei all den angenehmeren Möglichkeiten, die dieses Haus zu bieten hatte, zogen sich die beiden ausgerechnet nach dort unten, in diese Kellerküche zurück …
Gott sei Dank gab es dieses wunderschön glatte, steinerne Treppengeländer. Viel zu hoch für einen Dreijährigen …
Warum hatten ihn diese reichen Leute ausgerechnet in der Küche empfangen? Wollten sie ihm zeigen, wo er hingehörte, ihn beleidigen? Nein, dem Staatsanwalt war es nicht besser ergangen, als er schließlich am Tatort erschien war.
»Endlich!« Die letzten Stufen.
Der Carabiniere erwartete ihn bereits auf dem Treppenabsatz.
»Sie sagt, dass nichts fehlt.«
»Hat sie es einigermaßen verkraftet, als Sie sie ins Schlafzimmer gebracht haben?«
Das Bett und der blutbefleckte Läufer waren mit einer Plastikplane abgedeckt.
»Ja, sie scheint ganz in Ordnung. Ich geh jetzt nach unten und helfe den anderen, es sei denn, Sie brauchen mich hier noch.«
»Schon gut, gehen Sie ruhig. – Halt, nein, warten Sie! Gehen Sie doch bitte rüber zur Nachbarin. Sie heißt Donati, Costanza Donati. Bestellen Sie ihr einen Gruß von mir, und fragen Sie sie, ob ihr vielleicht noch irgendetwas eingefallen ist. Ich habe zwar gestern schon mit ihr gesprochen, habe aber so gut wie nichts in Erfahrung bringen können, sie war ziemlich durcheinander. Vielleicht hat sie ja doch jemanden herkommen oder weggehen sehen, mit dem Auto oder zu Fuß, den Postboten, einen Lieferanten, Sie wissen schon. Oder vielleicht erinnert sie sich an jemand, der in letzter Zeit hier herumgelungert ist und …« Er zog den jungen Mann beiseite. »Fragen Sie sie, ob sie das Opfer mal in männlicher Begleitung gesehen hat«, murmelte er leise.
Der Carabiniere polterte die Steintreppe hinunter, während Guarnaccia an die geöffnete Tür klopfte.
»Darf ich?«
Sie saß auf einem großen, weißen Sofa und untersuchte aufmerksam den Inhalt einer Schachtel auf ihrem Schoß. Ein Sonnenstrahl, der durch das offen stehende Fenster drang, zauberte kleine rote Funken auf ihren dunklen Schopf und ließ die Goldkette aufblitzen, die sie durch die Finger gleiten ließ. Die Tür zum Schlafzimmer war jetzt geschlossen. Die Blutspuren auf dem Boden waren beseitigt worden, nachdem die Spurensicherung ihre Arbeit erledigt hatte.
Sie blickte zu ihm auf, sagte aber kein Wort. Das junge Mädchen trug ein dunkelblaues T-Shirt, einen Baumwollrock und braune Ledersandalen, das lange, dunkle Haar fiel offen über ihren Rücken. Ohne die verweinten Augen war sie noch hübscher, als der Maresciallo angenommen hatte.
»Was ist mit dem Schmuck? Sind Sie sicher, dass nichts fehlt?«
Sie wand das goldene Kettchen um die Finger.
»Es ist alles da.«
»Man kann nie wissen, vielleicht hat Ihre Schwester sich ja selbst mal was gekauft, irgendein wertvolles Stück?«
»Das glaube ich nicht. Sie hatte kein Geld.«
Guarnaccia blickte auf das Mädchen hinunter, das die Hände um das Kettchen öffnete und schloss, immer wieder. Das war kein belangloses, einfaches Kettchen, es war etwas breiter gearbeitet und erinnerte an eine feine Klöppelarbeit. Ein mit Edelsteinen besetztes Kreuz hing in der Mitte. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie es mit ihren unruhig spielenden Fingern kaputtmachen. Aber immerhin, sie weinte nicht …
»Überhaupt keins? Ich gehe mal davon aus, dass sie für die Wohnung hier, die ihren Eltern gehört, keine Miete zahlen musste, und Sie haben mir gestern doch gesagt, dass sie gearbeitet hat. Sie haben den kleinen Jungen zur Schule gefahren, weil Ihre Schwester arbeiten musste.« Er sprach leise, freundlich, wählte seine Worte sorgfältig, in der Hoffnung, einen erneuten Weinkrampf vermeiden zu können.
»Sie hat an ihrer Doktorarbeit in Chemie gearbeitet. Manchmal hilft sie im Sekretariat der Uni aus, wenn dort viel zu tun ist. Im Moment ist da ziemlich viel los, weil es im Juli mit den Einschreibungen losgegangen ist, aber das macht sie nur ein paar Stunden die Woche. Sie hatte kein Geld, um sich Schmuck zu kaufen.«
»Und was ist mit einem Geschenk – von ihrem Freund
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