Vita Nuova
beobachtet hatte. »Vielleicht könnten Sie die Läden ein wenig zuziehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Sie stellte das Schmuckkästchen beiseite und zog die braunen Läden vor das offenstehende Fenster.
»Danke.« Er nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Hemdtasche.
»Ist das besser so?« Keine schlechte Idee, stellte Guarnaccia fest, als sie sich wieder setzte. Der halbdunkle Raum bot viel eher die Atmosphäre für ein vertrauensvolles Gespräch unter vier Augen. »Die vielen Bücher hier … Ihre Schwester muss eine ziemlich intelligente Frau gewesen sein. Sind ihre Freunde auch an der Uni? Bestimmt sind ein paar sie auch mal hier besuchen gekommen, oder?«
»Nein. Wenn sie nicht studiert hat, war sie hier bei uns und hat sich um Piero gekümmert.«
»Ja, natürlich. Sie muss sehr beschäftigt gewesen sein.« Hat den Mann in ihrem Leben also vor ihrer Familie verborgen gehalten. Aber an der Uni würde es bestimmt jemanden geben, der mehr wusste.
»Was ist mit Pieros Vater? Kennen Sie ihn?«
»Sie hat uns nie verraten, wer der Vater ist.«
»Aber Sie haben doch bestimmt Vermutungen, oder? Sie hätten es doch gewusst, wenn sie einen heimlichen Freund gehabt hätte, auch wenn er Ihnen nie vorgestellt worden ist.«
»Nein, das hätte ich nicht. Sie hat immer Geheimnisse vor uns gehabt. Papà besteht zwar darauf, dass wir alle zusammen zu Abend essen, und wir haben uns mit dem Kochen regelmäßig abgewechselt, aber sie redete dabei so wenig mit uns, dass Mamma sie manchmal ›unsere Untermieterin‹ genannt hat.«
»Tatsächlich? Nun ja … Chemie, haben Sie gesagt? Diese Wissenschaftler leben ja oft in ihrer ganz eigenen Welt, sind dabei völlig geistesabwesend.«
»Sie war so, seit sie zehn war.«
»Früh übt sich … Glauben Sie, dass sie den Vater vielleicht nie erwähnt und auch nie mit nach Hause gebracht hat, weil er ein verheirateter Mann war?«
Die Schwester schwieg, betrachtete das Kettchen, das sie immer enger um die Finger gewickelt hatte, schien darüber nachzudenken.
»Vielleicht …«, räumte sie schließlich ein.
»Und was ist mit Ihnen? Was haben Sie studiert?«
»Musik. Ich war auf dem Konservatorium. Ich wollte Sängerin werden, aber dann bin ich krank geworden und lag über ein Jahr lang im Krankenhaus. Das war’s dann mit dem Singen.«
»Das tut mir leid. Aber jetzt haben Sie wieder mit dem Singen angefangen?«
»Manchmal.« Sie zuckte mit den Schultern. »Meine Stimme ist noch immer recht gut, aber ich wollte ein erstklassiger Profi werden und nicht als mittelmäßiger Amateur um Engagements anstehen müssen.«
»Verstehe.« Machte sie deswegen das Mädchen für alles, half im Büro, fuhr das Kind ihrer Schwester in den Kindergarten und kümmerte sich um die Mutter?
»Ihr Vater kommt bald wieder auf die Beine, aber das wissen Sie ja, nicht wahr?« Der Staatsanwalt hatte gestern erst mit den Ärzten Rücksprache gehalten, bevor er Paoletti die traurige Nachricht überbrachte. Offenbar hatte es doch so seine Vorteile, einen Fall in diesen Kreisen zu bearbeiten. Da nahm einem der Staatsanwalt hin und wieder ein paar von den schwierigen Aufgaben ab, die normalerweise ihm zugefallen wären.
»Draußen vor dem Tor steht ein Streifenwagen Wache, Sie brauchen keine Angst zu haben. Nachts sind sie sogar hier auf dem Grundstück.«
»Heute Morgen, als ich Piero in den Kindergarten gebracht habe, waren sie nicht da.«
»Das stimmt, aber jetzt sind sie da, und sie werden dableiben. Möglicherweise treiben sich da draußen auch ein paar Journalisten herum. Ignorieren Sie sie einfach. Wir werden es nicht zulassen, dass Sie von der Presse belästigt werden. Bestimmt müssen Sie später noch mal los und Piero abholen, richtig?«
»Ja, um vier. Ich hab ihm noch nichts gesagt. Er will immerzu wissen, wann sie zurückkommt, und ich hab keine Ahnung, was ich ihm sagen soll.«
Rote Flecken erschienen auf ihrem Gesicht, und die Augen glitzerten schon wieder feucht.
»Versuchen Sie ganz langsam und ruhig durchzuatmen …« Doch da rollten bereits die ersten Tränen die rotgefleckten Wangen hinunter. Mit keiner Geste versuchte sie, sie fortzuwischen, starrte ihn einfach nur weiter an. Da er nichts anderes einstecken hatte, bot er ihr sein sauberes, weißes Taschentuch an.
»Danke. Ich bin jetzt für ihn verantwortlich. Ich muss es ihm irgendwann sagen.«
»Ja, das müssen Sie. Das Wichtigste ist jetzt, dass Sie für ihn da sind. Aber zuerst einmal müssen Sie sich beruhigen,
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