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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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sie rascher trinken zu können.
    Leises, abscheuliches Lachen hallte von den Mauern wider. Ich glaube, es kam von den Zuschauern auf den Balkonen. Dann ein jäher Wirbel roter Farbe, als sinke eine riesige, geblähte Flagge nieder. Doch es war eine der Damen, die sich aus großer Höhe hatte fallen lassen und nun inmitten der sie anbetenden Menge in der Hürde stand. Man neigte sich grüßend vor ihr, rückte aber gleich unter ehrfurchtsvollem Gekeuche wieder von ihr ab, da auch sie sich zu dem Kessel begab, wo sie mit klir-rendem, rebellischem Lachen ihr Handgelenk aufschlitzte und das Blut hineinfließen ließ.
    »Ja, meine Lieben, meine kleinen Schäfchen«, verkündete sie dabei. Dann blickte sie zu uns auf: »Komm herunter, Ursula, hab Mitleid mit unserer hungrigen, kleinen Welt; sei heute Nacht großzügig. Wenn du auch nicht an der Reihe bist, zu spenden, tu es zu Ehren unseres Neulings.« Ursula schien sich dieses Schauspiels zu schä-
    men und hielt mich sanft mit ihren schlanken Fingern fest. Ich schaute ihr in die Augen.
    »Ich bin betrunken, betäubt von dem puren Duft.«
    »Mein Blut ist nur noch für dich bestimmt«, flüsterte sie.
    »Dann gib es mir, ich dürste danach, ich bin sterbens-krank vor Schwäche«, murmelte ich. »Oh, Gott, so weit hast du mich gebracht! Nein, das war ich selbst.«
    »Schhh, mein Liebster, mein Süßer«, sagte sie.
    Ihr Arm schlang sich um meine Mitte, und ihre zarten Lippen saugten an der Haut direkt unter meinem Ohr, als wollte sie ein Liebesmal anbringen; ich spürte ihre warme Zunge und dann die Stiche ihrer Zähne. Es hatte eine delirierende Wirkung auf mich: In einem Land der Fantasie streckte ich die Hände nach ihr aus, während wir gemeinsam über die Wiese liefen, die nur uns beiden ge-hörte, zu der kein anderer Zutritt hatte.
    »Ach, unschuldige Liebe«, murmelte sie, während sie von mir trank. »Ach, du vollkommen unschuldige Liebe.«
    Dann fuhr ein plötzliches eisiges Feuer durch die Wunden an meinem Hals, es fühlte sich an wie ein graziler Parasit mit langen Tentakeln, die, einmal in meinen Körper eingedrungen, bis in die fernsten Winkel reichten. Die Wiese breitete sich um uns aus, unendlich weit und kühl und übersät mit weit geöffneten Irisblüten. War sie bei mir? An meiner Seite? Mir schien, dass ich auf einmal allein dastand und sie von weitem rufen hörte, als wäre sie hinter mir zurückgeblieben. Ich wollte mitten in dieser Ekstase, in diesem erfrischenden, flatterhaften Traum von blauem Firmament und zarten, knickenden Stängeln, umkehren und zu ihr zurückgehen. Doch dann sah ich etwas aus dem Augenwinkel, etwas von solchem Glanz und solcher Herrlichkeit, dass meine Seele sich emporgehoben fühlte. »Sieh doch, ja, du siehst es.«
    Mein Kopf sank in den Nacken. Der Traum war vorbei.
    Die hohen weißen Marmorwände dieser Gefängnisburg ragten vor meinen schmerzenden Augen auf. Ursula hielt mich im Arm und sah mich entgeistert an; ihre Lippen waren blutig. Sie nahm mich auf den Arm, denn ich war hilflos wie ein Kind. Sie trug mich die Stufen hinab, und ich konnte mit meinen kraftlosen Gliedern nichts dagegen tun. Es kam mir so vor, als bestünde die Welt über mir aus winzigen Gestalten. Aufgereiht auf Balkonen und Wehrgängen standen sie und lachten und zeigten auf mich mit winzigen ausgestreckten Händen, die sich dunkel vor den vielen Fackeln abhoben.
    Blut, rotes Blut. Man roch es.
    »Aber sag, was war das? Hast du es gesehen, auf unserer Wiese?«, fragte ich Ursula.
    »Nein!«, rief sie. Sie sah ganz erschrocken aus.
    Ich lag auf einem provisorischen Bett aus aufgehäuftem Heu, und die armen unterernährten Bauernjungen, die sie zu Dämonen gemacht hatten, starrten dümmlich und mit blutunterlaufenen Augen auf mich nieder, und sie, Ursula, weinte mit den Händen vorm Gesicht.
    »Ich kann ihn nicht hier lassen«, sagte sie.
    Sie war so weit weg. Ich hörte Weinen. Gab es einen Aufstand unter den Betäubten, den Verdammten? Ich hörte Weinen.
    »Du wirst ihn hier lassen! Und nun geh zuerst zu dem Kessel und spende dein Blut.«
    Wer sagte das?
    Ich wusste es nicht.
    »... Zeit für die Messe.«
    »Ihr werdet ihn heute Nacht nicht nehmen.«
    »Warum weinen sie?«, fragte ich. »Hör nur, Ursula, sie haben alle zu weinen angefangen.«
    Einer der dürren Jungen schaute mir direkt in die Augen.
    Er hatte eine Hand hinter meinen Kopf gelegt und hielt einen Becher mit warmer Suppe an meinen Mund. Ich wollte nicht, dass sie mir über das Kinn

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