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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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mir die Binde von den Augen gerissen.
    »Dies ist die Hürde, Vittorio«, erklärte Ursula, während sie ihren Arm an meinen presste und mir ins Ohr zu flüstern versuchte. »Hier werden unsere Opfer gehalten, bis wir sie brauchen.«
    Wir standen ziemlich weit oben auf einem kahlen Podest, von dem eine Treppe bogenförmig auf einen großen Platz hinabführte. Das rege Treiben, das dort herrschte, war so bizarr,dass ich es auf den ersten Blick nicht fassen konnte.
    Mir war klar, dass wir uns nicht auf der untersten Ebene der Burg befanden. Der Platz selbst war von allen vier Seiten eingeschlossen, und als ich den Blick nach oben richtete, sah ich, dass die umliegenden Wände mit wei-
    ßem Marmor verkleidet waren, unterbrochen von den schmalen, zweiflügeligen Spitzbogenfenstern im gotischen Stil. Und der Himmel darüber schimmerte in hel-lem, pulsierendem Licht, das ohne Zweifel von unzähligen flackernden Fackeln auf den Dächern und Stützpfeilern erzeugt wurde.
    Das alles war ziemlich bedeutungslos für mich, außer dass es mir die Unmöglichkeit einer Flucht verdeutlichte, da die nächsten Fenster viel zu hoch lagen und der Marmor viel zu glatt war, als dass man ihn hätte erklimmen können.
    In unerreichbarer Höhe ragten viele kleine Balkone über die Mauern hinaus, von denen bleiche, rot gewandete Dämonen auf mich niedersahen, als wäre meine Einführung in diesen Hof ein Schauspiel. Es gab einige sehr große überdachte Vorbauten, und auch dort standen mü-
    ßige, schadenfrohe Gaffer. Geht doch alle zur Hölle, dachte ich.
    Was mich verdutzte und faszinierte, war das wilde Durcheinander aus Menschen und ihren Quartieren auf diesem Platz vor mir.
    Zuerst einmal war dieser Ort wesentlich heller beleuchtet als der gespenstische Fürstenhof, wo zuvor über mich Gericht gehalten worden war, wenn man es denn so nennen wollte, und dann war er eine Welt für sich - ein rechteckiger Platz, der mit Dutzenden von Olivenbäumen und anderen blühenden Gehölzen wie Orangen- und Zitro-nenbäumen bepflanzt war, und in allen Zweigen hatte man Laternen aufgehängt.
    Eine Welt, die von offenbar trunkenen, verwirrten Leuten bevölkert wurde. Nackte und halb nackte, teils sogar reich gekleidete Gestalten schlurften, stolperten oder lagen sinnlos herum. Alle waren schmutzig, zerzaust, er-niedrigt.
    Überall gab es strohgedeckte Hütten, die den Bauernkaten vergangener Zeiten ähnelten, und offene hölzerne Schuppen und kleine gemauerte Unterstände sowie mit Lattenwerk umgebene Beete und dazwischen zahllose verschlungene Pfade. Was sich da unter dem gleißenden Licht zeigte, war ein trunkener, aus den Fugen geratener Irrgarten. Die dichten Obsthaine waren unterbrochen von Rasenflächen, auf denen Leute lagen und zu den Sternen hinaufstarrten, als schliefen sie mit offenen Augen.
    Unmengen blühender Kletterpflanzen rankten sich an Drahtzäunen empor, die nur den Zweck zu haben schienen, eine Art intime Abgeschiedenheit zu erzeugen, und es gab riesige Käfige, in denen gemästetes Geflügel hockte, ja, Geflügel! Auf ringsum verstreut eingerichteten Feuerstellen köchelten riesige Kessel über glühenden Kohlebetten vor sich hin und verströmten ein intensives würziges Aroma.
    Kessel! Und gefüllt mit Brühe!
    Ich sah vier der Dämonen herumlungern, vielleicht waren es auch mehr, dürr und bleich wie ihre Herren und in der gleichen blutroten Kleidung, nur war die ihre formlos und kaum mehr als Lumpenzeug - Bauernkleider. Zwei standen an einem Topf mit kochender Brühe oder Suppe oder was immer es war, während ein weiterer mit einem großen, abgenutzten Besen auskehrte; ein anderer trug gleichgültig ein wimmerndes Kleinkind auf der Hüfte, dessen Kopf auf dem schwachen Hals qualvoll wackelte.
    Dieser Anblick war viel bizarrer und verstörte mich mehr als der abscheuliche Hof dort oben mit seinen imposanten, leichenhaften, falschen Aristokraten.
    »Meine Augen brennen«, sagte ich, »das ist der Qualm aus den Kesseln.« Was daraus aufstieg, war ein durchdringendes köstliches Duftgemisch. Ich konnte einige der kräftigen Gewürze unterscheiden, ebenfalls den Geruch nach Hammel- und Rindfleisch, und es mischten sich noch andere fremdartige Düfte darunter. Überall sah man Menschen in diesem traurigen Dämmerzustand. Kinder, alte Frauen, die berüchtigten Krüppel, die man unten in der Stadt nicht mehr fand, Bucklige und verkümmerte Winzlinge, die nie zu ihrer vollen Größe herangewachsen waren. Riesige, unförmige Klötze von

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