Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Ungeheuer! Und hat Ursula nicht gesagt, dass auch sie einst jung war, jung wie ich? Auch die anderen waren einst Menschen, und nun sind sie zu Lemuren geworden.«
    Erregung hatte mich gepackt. Ich brauchte Papier und Feder. Ich musste die Stellen markieren. Ich musste mir aufschreiben, was ich da gefunden hatte, und dann weitersuchen. Denn der nächste Schritt bestand ganz klar darin, Ramiel und Setheus zu überzeugen, dass sie sich auf das größte -
    Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen. Ein Wesen hatte hinter meinem Rücken die Bibliothek betreten. Ich hörte schwere Schritte, die allerdings irgendwie gedämpft wirkten, und hinter mir verdunkelte sich der Raum, als wenn die zarten, verstohlenen Strahlen des Mondes, die in den gegenüberliegenden Gang fielen, irgendwie unterbrochen worden wären.
    Ich wandte langsam den Kopf und blickte über die Schulter.
    »Und warum wählst du die Linke?«, fragte dieses Wesen, das Schwingen trug und riesenhaft vor mir aufragte. Sein Antlitz schien hell im flackernden Kerzenschein zu strahlen, und die leicht angehobenen Brauen waren so gerade, dass sie einen strengen Ausdruck hervorriefen. Die Erscheinung hatte ungebärdiges goldenes Haar, wie der Pinsel Fra' Filippos es gemalt hatte, das sich unter einem mächtigen roten Streithelm lockte. Die Flügel an ihrem Rücken waren in schweres Gold getaucht. Sie trug eine Rüstung mit verziertem Harnisch und großen Spangen auf den Schultern, und um ihre Mitte wand sich eine Schärpe aus blauer Seide. Das Schwert steckte in der Scheide, und an einem Arm hing locker ein Schild mit rotem Kreuz darauf. Einen Engel wie ihn hatte ich noch nie gesehen.
    Aber ich erklärte sofort: »Ich brauche dich!« Dabei stand ich auf und stieß die Bank zurück, packte sie aber mit einem schnellen Griff, um zu vermeiden, dass sie unter Geklapper umfiel. Ich schaute dem Wesen ins Gesicht.
    »Du brauchst mich?«, sagte er mit unterdrückter Empö-
    rung. »Tatsächlich? Du, der du Ramiel und Setheus von Fra' Filippo abgelenkt hast? Du brauchst mich? Weißt du, wer ich bin?«
    Seine Stimme war überwältigend, volltönend, seidig, wild und durchdringend, aber tief.
    »Weil du ein Schwert hast«, sagte ich erklärend.
    »Ah, ja, und wozu?«
    »Um sie alle zu töten, alle!«, sagte ich. »Um mich zu dieser Burg zu begleiten, am hellen Tage. Weißt du, wovon ich spreche?«
    Er nickte. »Ich weiß von deinen Träumen und deinem Geplapper; ich weiß, was Ramiel und Setheus deinem fiebrigen Geist entnehmen konnten. Natürlich weiß ich Bescheid. Du sagst, du brauchst mich? Dabei liegt Fra'
    Filippo mit einer Hure im Bett, die seine vor Schmerzen brennenden Glieder leckt, und eins besonders, das ihret-wegen brennt!«
    »Und so redet ein Engel!«, sagte ich vorwurfsvoll.
    »Mach dich nicht über mich lustig, oder du bekommst einen Klaps«, sagte er. Seine Flügel hoben und senkten sich leicht, als wollten sie ein Seufzen ausdrücken oder eher ein aufgebrachtes Aufkeuchen.

    »Dann schlag mich!«, sagte ich. Meine Augen weideten sich an seiner glitzernden Schönheit, an seinen glatten, ernsthaften Wangen, an dem roten Umhang, der mit Spangen an der Stelle seiner Tunika befestigt war, die über der Rüstung hervorschaute. Dann fuhr ich drängend fort: »Aber begleite mich zu dem Berg und töte sie.«
    »Warum erledigst du das nicht selbst?«
    »Glaubst du, das könnte mir gelingen?«, wollte ich wissen.
    Seine Züge glätteten sich. Seine Unterlippe schob sich kaum merklich vor, während er nachdachte. Sein Kiefer und sein Nacken zeugten von großer Kraft, waren viel mächtiger als bei Ramiel und Setheus, deren Äußeres insgesamt jugendlicher wirkte; er schien der bewun-dernswerte ältere Bruder zu sein.
    »Du bist nicht der gefallene Engel, nicht wahr?«, fragte ich.
    »Wie kannst du es wagen!«, flüsterte er und fuhr aus seiner ruhigen Versunkenheit auf. Seine Miene verdüsterte sich erschreckend.
    »Dann bist du Mastema, genau der! Die beiden nannten deinen Namen, Mastema.«
    Er nickte und lächelte höhnisch. »Natürlich haben sie meinen Namen genannt!«
    »Und hat das etwas zu bedeuten, erhabener Engel?
    Dass ich dich anrufen kann? Dass ich die Macht habe, dir zu befehlen?« Ich drehte mich um und angelte nach dem Buch.
    »Leg das Buch fort!«, sagte er ungeduldig, aber kühl.
    »Hier steht ein Engel vor dir, Junge, sieh mich an, wenn ich mit dir spreche!«
    »Ah, du redest wie Florian, der Dämon aus der fernen Burg. Du hast die gleiche Beherrschung und

Weitere Kostenlose Bücher