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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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den gleichen Tonfall. Was willst du von mir, Engel? Warum bist du gekommen?«
    Er schwieg, als fehlte ihm die Antwort darauf. Dann schoss seine Frage hervor: »Was denkst du denn?«
    »Weil ich gebetet habe?«
    »Ja«, sagte er kalt. »Ja! Und weil die hier deinetwegen zu mir gekommen sind.«
    Ich riss die Augen auf. Licht drang in sie ein, doch verursachte es mir keinen Schmerz. Leise, süße Klänge hallten in meinen Ohren. Links und rechts von ihm waren Ramiel und Setheus erschienen und richteten ihre milden, viel sanfteren Blicke auf mich. Mastema schaute mit hochgezogenen Augenbrauen auf mich nieder.
    »Fra' Filippo ist betrunken«, bemerkte er. »Und wenn er erwacht, wird er noch mehr trinken, bis er keine Schmerzen mehr hat.«
    »Was für eine Dummheit, einen berühmten Maler zu foltern!«, sagte ich. »Aber du weißt schließlich, wie ich da-rüber denke.«
    »Ha, und auch, wie alle Weiber in Florenz darüber denken«, sagte Mastema, »und sämtliche großen Männer, die für seine Bilder zahlen, nur dass ihre Gedanken nun auf den Krieg gerichtet sind.«
    »Ja«, stimmte Ramiel zu, während er beschwörend zu Mastema herüberschaute. Sie waren gleich groß, aber da sich Mastema nicht umdrehte, trat Ramiel ein wenig vor, als wollte er seinen Blick auffangen.
    »Das ganze Leben ist Krieg«, sagte Mastema. »Ich habe dich schon einmal gefragt, Vittorio di Raniari, weißt du, wer ich bin?«
    Ich war verunsichert, nicht durch die Frage, sondern weil die drei nun gemeinsam hier standen, weil ich, das einzige menschliche Wesen hier, vor ihnen stand und die übrige Menschenwelt zu schlafen schien. Warum war noch kein Mönch den Gang entlanggekommen, um zu sehen, was da in der Bibliothek für ein Gewisper herrschte? Warum war noch keine Nachtwache erschienen, um nachzusehen, wieso Kerzenschein in den Fluren aufflak-kerte und warum der Junge, den sie in ihrer Obhut hatten, murmelte und fantasierte?
    War ich doch wahnsinnig?
    Ganz plötzlich kam mir der groteske Gedanke, dass ich, wenn ich Mastema die richtige Antwort geben könnte, eindeutig nicht wahnsinnig wäre. Diese Idee entlockte ihm ein kleines, weder freundliches noch unfreundliches Lachen.
    Setheus betrachtete mich mit offenkundigem Mitgefühl.
    Ramiel sagte nichts, schaute jedoch abermals Mastema an.
    »Du bist der Engel«, sagte ich, »dem der HERR erlaubt, dieses Schwert zu führen.« Er reagierte nicht darauf, also fuhr ich fort: »Du bist der Engel des HERRN, der die Erstgeborenen der Ägypter schlug.« Wieder keine Antwort. »Du bist der Engel ... der Engel, dem erlaubt ist, Rache zu üben.«
    Er stimmte zu, aber eigentlich nur mit den Augen. Seine Lider senkten sich und hoben sich dann wieder. Setheus schob sich an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Hilf ihm, Mastema! Wir sollten ihm gemeinsam helfen. Filippo kann mit unserem Rat zurzeit nichts anfangen.«
    »Und warum nicht?«, verlangte Mastema von dem Engel an seiner Seite zu wissen. Er schaute mich an. »Gott hat mir nicht die Erlaubnis gegeben, diese Dämonen zu strafen. Nie hat Gott je zu mir gesagt: ›Mastema, geh und erschlage die Vampire, die Lemuren, die Larven, die Bluttrinker.‹ Niemals hat Gott zu mir gesprochen und gesagt:
    ›Hebe dein mächtiges Schwert und reinige die Welt von diesen da.‹«
    »Ich bitte dich darum«, sagte ich. »Ich, ein sterblicher Knabe, bitte dich darum. Töte sie, säubere das Nest dieser Unholde mit deinem Schwert.«
    »Das darf ich nicht.«
    »Doch, Mastema, das darfst du!«, behauptete Setheus.
    Ramiel ergriff das Wort: »Wenn er sagt, er darf es nicht, dann geht es nicht! Warum hörst du nie zu?«
    »Weil ich weiß, dass man ihn rühren kann«, antwortete Setheus seinem Gefährten, ohne zu zögern. »Ich weiß, man kann ihn rühren, wie man Gott rühren kann.«
    Setheus stellte sich kühn vor Mastema auf.
    »Nimm das Buch, Vittorio«, sagte er und trat vor. Im gleichen Moment blätterten sich die großen Pergamentsei-ten, so schwer sie auch waren, wie von selbst um. Er legte das Buch in meine Hand und zeigte auf die Stelle, wobei sein heller Zeigefinger kaum die dicke schwarze Schrift berührte.
    Ich las laut vor:

    Und darum verschmäht Gott, der die sichtbaren Wunder des Himmels und der Erde gemacht hat, es nicht, im Himmel und auf der Erde auch sichtbare Wunder zu wirken, und damit ruft er die Seele, die bis zu dem Zeitpunkt mit sichtbaren Dingen beschäftigt ist, dazu auf, IHN anzubeten.

    Seine Finger bewegten sich über die Seite, und meine Augen

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