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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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nach einem möglichen Ausgang zu suchen?
    Ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass meine Engel mich verlassen hatten. Es geschah mir recht, doch ich war aufrichtig davon überzeugt, dass Ursula eine Chance verdient hatte. Sie sollte sich Gottes Gnade un-terwerfen. Wir mussten fort von hier und, wenn es denn sein musste, einen Priester finden, der ihre Seele von allen Sünden freisprechen würde. Denn selbst wenn sie nicht aufgrund ihrer Liebe zu Gott eine umfassende Beichte ablegen konnte, so würde doch sicherlich die priesterliche Absolution ihre Seele erlösen.
    Ich begann in dem Gewölbe herumzustöbern, dabei kam ich wiederholt an den einschrumpfenden Leichnamen vorbei. Eingetrocknetes Blut, das über die Ränder der steinernen Bahren geronnen war, glitzerte im matten Licht.
    Endlich erfüllte sich meine Hoffnung, und ich fand eine Leiter, die so lang war, dass sie bis zum Rand der Dek-kenöffnung reichen würde. Aber wie sollte es mir gelingen, das Ding hochzuwuchten? Als ich die Leiter zur Mitte des Gewölbes zerrte, musste ich die gnadenlos zerstörten Köpfe mit einem Fußtritt aus dem Weg räumen. Dort legte ich sie auf den Boden, stellte mich zwischen die Sprossen und versuchte sie aufzurichten.
    Unmöglich! Mir fehlte einfach die Kraft dazu. Drei oder vier kräftige Männer hätten sie vielleicht so weit nach oben schieben können, dass ihre oberste Sprosse an den abgebrochenen Speerschäften Halt gefunden hätte, aber allein schaffte ich es nicht.
    Es musste noch andere Möglichkeiten geben. Eine Kette oder ein Seil, das man über die Speere werfen konnte.
    Ich suchte in dem trüben Dämmerlicht danach, fand aber nichts. Weder Seil noch Ketten gab es hier? Waren selbst die jungen Dämonen in der Lage gewesen, die Lücke zwischen dem Boden und der abgebrochenen Treppe zu überwinden? Schließlich suchte ich die Wände ab, in der Hoffnung, auf eine Unebenheit, einen Haken oder eine Erhöhung zu stoßen, die vielleicht auf einen Lagerraum oder, Gott behüte, eine weitere Krypta hinwies. Aber auch hier hatte ich keinen Erfolg.
    Zuletzt schleppte ich mich wieder zurück in die Mitte des Raumes und begann alle herumliegenden Schädel einzu-sammeln, selbst Godrics ekligen, kahlen Kopf, der nun schwarz wie Leder war, mit gelb verfärbten Augenschlit-zen. Dann türmte ich diese Überreste an einer Stelle auf-einander, wo das Licht sie endgültig zerstören musste.
    Ich stolperte über die im Weg liegende Leiter und sackte schließlich am Fuß von Ursulas Ruheplatz auf die Knie.
    Ich würde ein wenig schlafen. Nein, nicht schlafen, mich nur ein wenig ausruhen.
    Obwohl ich es nicht beabsichtigt hatte, es im Gegenteil sogar fürchtete und bereute, fühlte ich, wie meine Glieder erschlafften und ich auf dem kalten Boden in einen erhol-samen Schlummer sank.
    Es war sehr merkwürdig.
    Ich hatte geglaubt, dass mich ihre Schreie wecken würden, dass sie sich im Dunkeln wie ein ängstliches Kind von der Bahre erheben würde, wenn sie sich ganz allein so vielen Toten gegenübersähe.
    Ich hatte geglaubt, der Anblick dieses Schädelhaufens würde sie maßlos erschrecken.
    Aber nichts dergleichen.
    Zwielicht drang durch die Öffnung herab, violett gefärbt wie die Blumen unserer Wiese, und sie stand über mich gebeugt. Sie hatte den Rosenkranz um ihren Hals gelegt, was unüblich war, und trug ihn wie ein hübsches Schmuckstück. Das goldene Kruzifix glitzerte, wenn sie sich bewegte - ein goldenes Funkeln gleich den Lichtpünktchen in ihren Augen.
    Sie lächelte.
    »Mein Tapferer, mein Held, komm, wir wollen diesen Ort des Todes hinter uns lassen! Du hast es geschafft. Du hast dich an ihnen gerächt!«
    »Haben sich deine Lippen bewegt?«
    »Müssen sie das?«
    Ein Schauer durchfuhr mich, als sie mich auf die Füße zog. Sie legte mir die Hände fest auf die Schultern und schaute zu mir auf.
    »Sei gesegnet, Vittorio«, sagte sie. Dann fasste sie mich um die Mitte und stieg mit mir in die Lüfte, vorbei an den abgebrochenen Speeren, ohne auch nur die gesplitterten Spitzen zu berühren. Wir fanden uns im Dämmerlicht der Kapelle wieder, wo sich die Fenster schon verdunkelten und gütige Schatten schmeichelnd den Altar umfingen.
    »Ach, mein Liebling, mein Liebling«, seufzte ich, »weißt du, was die Engel vollbracht haben? Weißt du, was sie gesagt haben?«
    Aber sie antwortete nur: »Komm, du möchtest doch, dass wir die Gefangenen befreien.«
    Ich fühlte mich so erfrischt, so voller Energie. Als hätte ich nichts

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