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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Finger sich klauengleich um die leere Luft schließen und ihre Lider sich mit glasigem Blick öffnen würden. Ich konnte es nicht ertragen.
    Unter dem Saum ihres Kleides schauten die winzigen Spitzen ihrer Schuhe hervor. Mit welch zierlicher Sorgfalt sie sich bei Sonnenaufgang zur Ruhe niedergelegt haben musste! Wer hatte die Falltür geschlossen? Den Me-chanismus für die Speerfalle hatte ich weder untersucht noch mir bisher Gedanken darüber gemacht. Wer hatte ihn bedient?
    Jetzt erst entdeckte ich im dämmrigen Licht einen zarten goldenen Reif, der mit winzigen Nadeln befestigt war und sich um ihre Locken schmiegte, so dass die einzelne Perle, die daran hing, auf ihrer Stirn ruhte. So ein kleines zartes Ding. War ihre Seele so zart? Würde die Hölle sie verschlingen, so wie das Feuer ihren zerbrechlichen Körper verschlingen, wie die Sonne ihr makelloses Antlitz zu einer Fratze verbrennen würde?
    Einst hatte auch sie im Leib einer Mutter geschlafen und geträumt, war einem Vater in die Arme gelegt worden.
    Welche Tragödie hatte sie in dieses eklige, stinkende Grab geführt, wo nun die Häupter ihrer erschlagenen Ge-fährten langsam im Licht der beharrlichen, stets gleichgültigen Sonne schmorten?
    Ich senkte das Schwert und wandte mich den Engeln zu.
    »Eine, eine Einzige lasst leben. Eine!«, rief ich.

    Ramiel verhüllte sein Antlitz und drehte mir den Rücken zu. Setheus hielt meinen Blick, aber er schüttelte den Kopf. Meine Schutzengel sahen mich nur mit der bekannten gleichgültigen Kälte an. Und Mastema betrachtete mich stumm; was immer er dachte, verbarg er hinter der reglosen Maske seines Gesichts.
    »Nein, Vittorio«, sagte er. »Glaubst du, eine ganze Schar der Engel Gottes hat dir geholfen, über alle Hindernisse hinweg hier einzudringen, damit nun eine dieser Kreaturen am Leben bleibt?«
    »Mastema, sie hat mich geliebt. Und ich liebe sie. Mastema, sie schenkte mir das Leben. Mastema, ich bitte dich um der Liebe willen. Was hier geschah, geschah um der Gerechtigkeit willen. Aber was soll ich Gott sagen, wenn ich diese hier ermorde, die nur liebte und die ich liebe?«
    Seine Haltung änderte sich nicht. Er betrachtete mich mit unendlicher Ruhe. Erschreckende Töne drangen an mein Ohr. Ramiel und Setheus waren es, sie weinten! Meine Schutzengel drehten sich zu ihnen um, als wären sie überrascht, wenn auch nur ein wenig, dann hefteten sich ihre träumerischen, sanften Augen wieder unverändert auf mich.
    »Unbarmherzige Engel«, stammelte ich. »Ach, es ist ungerecht, das weiß ich genau. Ach, ich habe gelogen. Ich habe gelogen! Vergebt mir!«
    »Wir vergeben dir«, sagte Mastema. »Aber du musst tun, was du versprochen hast.«
    »Mastema, wird ihre Seele erlöst werden? Wenn sie sich lossagt von allem ... kann sie dann ... hat sie noch eine menschliche Seele?«
    Er gab keine Antwort. Keine Antwort.
    »Mastema, bitte, sag es mir. Verstehst du nicht? Wenn es eine Erlösung für sie gibt, dann bleibe ich hier bei ihr.

    Ich werde darum kämpfen, dass sie sich lossagt, dass sie bereut. Ich weiß, es wird mir gelingen, denn tief drinnen in ihrem Herzen ist sie gut. Sie ist jung und gut. Mastema, sag doch, kann ein Geschöpf wie sie erlöst werden?«
    Keine Antwort. Ramiel hatte seinen Kopf an Setheus'
    Schulter gelehnt.
    »Ach, bitte, Setheus, sag du es mir. Kann sie erlöst werden? Muss sie von meiner Hand sterben? Was, wenn ich bei ihr bleibe und sie dazu bringe, zu bereuen? Wenn sie beichtet, wenn sie allen ihren Taten abschwört? Gibt es keinen Priester, der ihr die Absolution erteilen kann? Oh, Gott ...«
    »Vittorio«! Es kam wie ein Hauch von Ramiel. »Sind deine Ohren mit Wachs versiegelt? Hörst du nicht die hun-gernden Gefangenen, nicht ihr Jammern und Weinen?
    Du hast sie noch nicht befreit. Willst du bis zum Abend warten?«
    »Das mache ich noch. Ich kann sie später befreien! Aber ist es nicht möglich, erst einmal bei ihr zu bleiben, und wenn sie sieht, dass sie allein ist, dass die anderen alle dahin sind, dass Godric und Florian nur leere Verspre-chungen machten, gibt es dann keinen Weg, dass sie ihre Seele Gott anvertraut?«
    Ohne dass seine kalten, sanften Augen auch nur eine Regung gezeigt hätten, wandte Mastema sich von mir ab.
    »Nein, nicht! Wende dich nicht ab!«, rief ich. Ich klammerte mich an seinen mächtigen, seidenumhüllten Arm.
    Ich spürte die unüberwindbare Kraft durch den Stoff, der so seltsam, so unnatürlich war. Mastema schaute auf mich nieder.
    »Warum kannst du

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