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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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es mir nicht sagen?«
    »Um Gottes willen, Vittorio!«, dröhnte er plötzlich, so dass seine Stimme das ganze Gewölbe ausfüllte. »Verstehst du denn nicht? Wir wissen es nicht!«
    Er schüttelte mich ab, damit seine grimmigen Augen unter den gerunzelten Brauen sich noch tiefer in die meinen bohren konnten. Seine Hand schloss sich um den Griff seines Schwertes.
    »Unseresgleichen kennt keine Vergebung!«, rief er. »Wir sind nicht aus Fleisch und Blut, und in unserem Reich gibt es Hell oder Dunkel, etwas anderes kennen wir nicht!«
    Wutentbrannt drehte er sich herum und marschierte auf Ursula zu. Ich rannte hinter ihm her und zerrte an ihm, doch ich konnte ihn nicht von seinem Vorhaben abbrin-gen. Er führte seine Hand an ihrem suchenden Arm vorbei und umklammerte ihren zarten Hals. Ihre blinden Augen hafteten auf diese schreckliche, Grauen erregende Weise an ihm.
    »In ihr lebt eine menschliche Seele«, flüsterte er. Und dann trat er zurück, als könnte er es nicht ertragen, sie zu berühren, und er schob sich rückwärts von ihr fort und drängte so auch mich gewaltsam zurück.
    Ich brach in Tränen aus. Die Sonne wanderte langsam weiter, und die Schatten in dem Gewölbe wurden größer.
    Endlich regte ich mich. Der Lichtfleck dort oben war nun blasser, zwar immer noch strahlend golden, aber verblasst. Und dort hatten sich meine Engel versammelt und beobachteten mich und warteten.
    »Ich bleibe bei ihr«, sagte ich entschieden. »Sie wird bald aufwachen. Und ich werde ihr ans Herz legen, dass sie um Gottes Gnade beten soll.« Erst als ich es aussprach, wusste ich, wie ich mich entschieden hatte. Erst da war es mir ganz klar.
    »Ich werde bleiben. Wenn sie um der Liebe Gottes willen all ihre Sünden widerruft, dann kann sie an meiner Seite bleiben, bis wir gemeinsam sterben. Wir werden keinen Finger rühren, um unseren Tod zu beschleunigen, und Gott wird uns beide zu sich nehmen.«
    »Glaubst du, du hast die Kraft dazu?«, fragte Mastema.
    »Und nimmst du es auch von ihr an?«
    »Das schulde ich ihr«, sagte ich. »Ich bin ihr verpflichtet.
    Ich habe euch nie belogen, keinen von euch. Ich habe mich auch selbst nie belogen. Sie hat meine Geschwister getötet. Ich habe es gesehen. Und zweifellos hat sie auch viele meiner Verwandten getötet. Aber mich hat sie verschont. Zwei Mal hat sie mich gerettet. Zu töten ist einfach, aber jemanden zu retten, nicht!«
    »Ah«, sagte Mastema, als hätte ich ihn geschlagen. »Das ist wahr.«
    »Und deswegen bleibe ich hier. Ich erwarte nichts mehr von euch. Ich weiß, dass ich nicht wieder hier herauskomme. Vielleicht schafft das nicht einmal Ursula.«
    »Doch, sie schafft es«, sagte Mastema.
    »Lass ihn nicht hier zurück«, bat ihn Setheus. »Nimm ihn mit, auch wenn er nicht will.«
    »Das können wir nicht machen, keiner von uns. Und das weißt du auch«, antwortete Mastema.
    »Wir holen ihn nur aus dem Gewölbe, das ist, als holten wir ihn aus einer Schlucht, in die er gefallen ist.«
    »Aber das hier ist keine Schlucht, und deshalb geht es nicht.«
    »Also bleiben wir bei ihm!«, sagte Ramiel.
    »Ja, wir wollen bei ihm bleiben«, sagten meine beiden Schutzengel mehr oder weniger gleichzeitig und mit der gleichen Ausdruckslosigkeit.
    »Vielleicht sollten wir uns ihr zeigen!«
    »Woher wissen wir, dass sie uns sehen kann?«, fragte Mastema. »Und woher wissen wir, dass sie uns sehen will? Wie oft kommt es vor, dass ein menschliches Wesen uns sehen kann?«

    Zum ersten Mal sah ich ihn zornig. Er schaute mich an.
    »Was spielt Gott für ein Spiel mit dir, Vittorio!«, sagte er.
    »Dass er dir solche Feinde gibt und solche Verbündete!«
    »Ja, ich weiß. Und ich will IHN mit aller Kraft um die Er-lösung ihrer Seele bitten, mein ganzes Leid will ich in die Waagschale legen.«
    Ich hatte nicht vor, die Augen zu schließen, und ich weiß, dass ich sie nicht schloss.
    Aber plötzlich war alles ganz anders. Der Stapel schrum-pelnder Schädel lag immer noch da, ein paar davon befanden sich etwas verstreut am Rand, und beißender Rauch stieg von ihnen auf. Und, ja, das Licht von oben wurde langsam schwächer, auch wenn es jenseits der abgebrochenen Treppe und der aufragenden Speerschäfte noch golden schimmerte, in Gold getaucht von den letzten Strahlen der Nachmittagssonne.
    Aber meine Engel waren fort.

    12

    UND FÜHRE MICH NICHT IN VERSUCHUNG

    Obwohl ich sehr jung war, so war mein Körper doch über-fordert. Wie konnte ich in dem Gewölbe auf Ursulas Erwachen warten, ohne

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