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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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zu zerbrechen und meine Mutter nicht immer nur an einem Sonntag zu besuchen, irgendeinen Septembermittwoch freigenommen und am Morgen meine Mutter besucht. Sie war ohnehin nicht mehr imstande zu wissen, was ein Wochentag oder ein Kalender war, und ich allein, als denkender Mensch, hielt mich an diese dummen Angelegenheiten, die meinem Leben so viel Struktur wie Müdigkeit einverleibten. Und ich fragte mich, was für ein trauriges Leben ich denn führte, wenn sich schon die Änderung des Besuchstages bei meiner Mutter irgendwie radikal anfühlte. Strukturen zu zerbrechen wird mit der Anzahl der vergehenden Jahre immer schwieriger.
    Wie immer war da dieser Flur, trist und trostlos, wie ewiges Toastbrotessen. Ich hätte es hier nicht lange ausgehalten, hätte wohl trotz immenser Feigheit ein offenstehendes Fenster für einen Sprungversuch genutzt, nur um dieser Toastbrotstimmung zu entkommen. Zumindest verschwendete ich daran einige lange und detaillierte Gedanken. Es war bitter und auch der Gedanke, dass meine Mutter nicht mal mehr die Entscheidungskompetenz hatte, in einem offenen Fenster einen Ausgang zu sehen, verbitterte die Situation zusehends. Vielleicht war aber gerade auch ihre Krankheit ein Schutzwall zur Realität, die sie umgab. Vielleicht war ihr Insichkehren, der Rückzug in ihre Person, vielleicht waren diese Aspekte ihre psychische Rettung. Akzeptanz durch Abbau. Das langsame Runterfahren aller vorhandenen Systeme. «Sie können diesen Menschenkörper jetzt ausschalten», wird irgendwann auf ihrem Bewusstsein zu lesen sein, und ein Neustart wird zur Unmöglichkeit erklärt, weil die Software, die zum Betrieb des Systems nötig wäre, nicht mehr vorhanden ist. Gelöschte menschliche Festplatten bleiben zurück, siechen dahin, verenden, verrecken, zerstreuen sich.
    Ihr Zimmer roch erneut wie frisch desinfiziert. Meine Mutter lag nahezu regungslos auf dem Bett und ließ ihren Blick durch die Atmosphäre stechen. Der Blick jedoch war scharf wie ein frisch geschliffenes Sushimesser und doch ohne Koordination. Meine Mutter war ein mitleidserregender Anblick, wiederum das Schütten von kiloweise Salz in den offenen Blutkreislauf meiner Empathie. Ihr physischer Zustand hatte sich erneut verschlechtert und sie hatte erheblich an Gewicht verloren. Sie wirkte in ihrem mintgrünen Schlafanzug, als sei sie lediglich eine optische Ergänzung der Bettwäsche. Als sei sie nur eine einst schmucke Überwurfdecke, die ihren Glanz und ihre Farbgebung durch zu viele Waschgänge eingebüßt hatte, und alles, was jemals an ihr gelebt hatte, war schon entsorgt worden. Überführt in ein menschliches Endlager. Der Blick machte mir Angst, und ich erinnerte mich daran, diesen Blick schon einmal gesehen zu haben.
    Ich war damals vielleicht drei Jahre alt und hatte mir durch eine zunächst harmlos beginnende Erkältung eine Meningitis eingefangen. Ich lag auf meinem Kinderbett, das Fieberthermometer zeigte über 40 Grad an, ich sah mein Kinderzimmer nur noch wie das Innere eines Aquariums. Wie unter Wasser, so war auch mein kindlich kaputtes Bewusstsein in diesen Krankheitstagen, und ich spürte, wie die Entzündung in meinem Kopf Dinge anrichtete, die man einem Kind nicht antun sollte. Ab und an kam ein Arzt vorbei, unser Hausarzt, der alte Doktor Julius, ein kinderfreundlicher älterer Mann mit einer schweren schwarzen Ledertasche. Ich erinnere mich sehr gut an die Tasche von Doktor Julius und an seinen schweren, fast haarlosen Schädel, in dem sich gutmütige Augen befanden. Dieser Arzt sagte zu meiner Mutter, und ich erinnere mich bis heute an den genauen Wortlaut: «Es steht nicht gut um Ihren Sohn, entweder er stirbt oder er behält eine Behinderung zurück.» Nachdem Doktor Julius meiner Mutter diese stahlharte Wahrheit präsentiert hatte, weinte sie nicht, sondern starrte mich einfach nur an. Und täglich machte sie mir mehrmals Wadenwickel, sprach aber nicht mehr mit mir, sondern starrte mich nur an, und ich, das kranke Kind im Fieberwahn, war zu krank und zu schwach zum Sprechen und sah den leeren und doch angstgefüllten Blick meiner Mutter, der auf mir ruhte. Nach vier solchen Tagen ging das Fieber aber runter, und ich erinnere mich an ein weiteres Detail: blaue Finger. Doktor Julius hatte blaue Finger, wenn er die blaue Plexiglasverpackung vom Fieberthermometer entfernte und sie festhielt. Durch den dunkelblauen Kunststoff sah ich seine Finger blau leuchten, wie ich mir vorstellte, dass irgendetwas gutmütiges

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