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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Außerirdisches blau leuchtete, und das beruhigte mich, und auch meine Mutter hörte anschließend mit dem Starren auf und behandelte mich wieder wie ihr Kind und gab mir nicht mehr das Gefühl, an ihrer Trauer schuld zu sein. Denn genau das transportierte sie mit diesem Endlosstarrblick in mein Bewusstsein. Ein Blick, auf den ich nichts erwidern konnte außer stumme Hilflosigkeit. «Sterben oder Behinderung», ich kannte mich mit beiden von Doktor Julius in Aussicht gestellten Dingen überhaupt nicht aus, aber alles, was meiner Mutter einfiel, war, mich drei Tage lang anzustarren. Ich war also nicht gestorben, eine Behinderung war auch nicht zu vermerken, aber meine Mutter behandelte mich seit diesem Vorfall wie einen viel zu kostbaren Gegenstand, der auf keinen Fall irgendeiner Gefahr ausgesetzt werden durfte. Manchmal genoss ich es, später wurde es mir aber zuwider, weil ich bemerkte, dass mich ihr mütterliches Schutzverhalten von Erfahrungen fernhielt, die ein junger Mensch eigentlich benötigt, um ein älterer Mensch zu werden. Aber den Blick, den sie gehabt hatte, als sie geglaubt hatte, ich stürbe demnächst, der hatte sich in mich eingebrannt, und genau diesen Blick glaubte ich jetzt in ihren leergelebten Augen zu erkennen.
    Jetzt lag meine Mutter hier, in absoluter Hilflosigkeit und maximaler Pflegebedürftigkeit. Sie sprach auch nicht mehr, und ich saß neben ihrem Bett und sah ihr beim Starren zu. Sie hatte die Augen geöffnet und hätte sie nicht ab und zu schleifende und rasselnde Atemgeräusche von sich gegeben, ich hätte das Schlimmste befürchtet. Sie war noch da, die Hülle meiner Mutter, und jetzt hatte ich augenscheinlich einen Begriff davon, was die Phrase «im Sterben liegen» tatsächlich bedeutete. Sie lag da und ihr Sterben lag auch da, umfing sie und klammerte sich an ihren Leib.
    Zehn Minuten vergingen, dann sprach ich leise ins Ohr meiner Mutter. «Mama, schön dich zu sehen.» Keine Reaktion. Ich schluckte und der Desinfektionsmittelgeruch komplettierte den Endzeithorror. Aber ich wollte weiter Gefühl streuen, einfach für ihr Unterbewusstsein. Wer konnte schon sagen, was genau meine Mutter in diesem Zustand noch wahrnahm? Vielleicht hatte sie in diesem Zwischendelirium Bilder vor Augen, die sich ein Mensch ohne Abbauprozess im Gehirn gar nicht vorstellen konnte, und genoss es gar, in die angebliche Weite zu starren und Dinge zu sehen, die außerhalb meiner Assoziationskraft lagen.
    «Mama, ich muss, bis Sonntag.» Und meine Mutter atmete einmal heftig aus, ihr Mund wurde schmal, daraus quoll ein Pfeifton, unbeabsichtigt wahrscheinlich und das musste mir als Antwort genügen. Ich stand auf und beabsichtigte den Raum zu verlassen. Am liebsten schnell, damit es weniger wehtat. So wie man ein Pflaster von einer Wunde abreißt, so gedachte ich zu verschwinden. Dinge, von denen ich wusste, dass in ihnen Schmerzpotential vorhanden war, versuchte ich immer, in überirdischer Geschwindigkeit zu erledigen, weil mich der Schmerz sonst zu Boden gerissen und wie eines seiner typischen Opfer behandelt hätte.
    Meine Mutter starrte nach oben. Das Oben starrte zurück, und zwar in unmittelbar gleichförmiger Gelassenheit. Ich ging einige Schritte, das Bild meiner Mutter hatte sich verletzend in mein Bewusstsein geschlängelt, ich hatte diese tristen, grauen, morbiden Momente gespeichert, weil die was von mir wollten, die Momente. Aber das Bedürfnis dieser Momente, die sich in meinen Geist zu schütten gedachten, drang nicht mehr zu mir durch. Aus diesen Momenten bestand dann wohl letztendlich noch meine Mutter.
    «Entschuldigung, haben Sie eine Minute?» Eine fette Altenpflegerin, an deren unförmiger Brust die Worte «Frauke Harmsen» und «examinierte Altenpflegerin» auf einem Schild zu lesen waren, passte mich auf dem Flur ab. Sie kam wohl gerade aus dem Zimmer von Frau Bender, aus dem es verzweifelt und vielsagend «wota, wota, äh ...» schallte, und diese Frauke begrüßte mich mit dem Handschlag eines Holzfällers. Ich dachte mir nur so, wenn sie mit dieser Grobmotorik auch Menschen wäscht und pflegt, verstünde ich die Verweigerung der letzten Lebenstage sehr gut. Frauke roch nach Desinfektionsmittel und Eigenschweiß. Eine sehr ungute olfaktorische Kombination.
    Ich hatte sie hier schon öfter mal über den Flur laufen sehen und immer wirkte sie wie ein unförmiges Ding, das von Zimmer zu Zimmer hopste, Türen aufriss und in einer derben Sprache alte Menschen volltextete. Sie wirkte

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