Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Lernspielzeug, das es in die Hand bekam, erst mal keinen Zugang entwickeln konnte. Aber all das konnte sie anscheinend hinter ihrer overdressten Eleganz verbergen; bloß mich konnte sie damit nicht verarschen.
Frau Braun schleppte einige Kisten an, zunächst das sogenannte Barsortiment, das wurde ja jede Nacht von Großhändlern angeliefert. Sie packte große und kleine Bücher aus, sah jedes mit einem Blick an, wie Eltern ein Kind beim ersten Schultag anschauen, und stellte sie ins Regal, nachdem sie sie auf dem Lieferschein abgehakt hatte. Diese Frau war ein wandelndes Mysterium für mich. So sehr ich wusste, dass Claudia ein mediales und modebewusstes Opfer darstellte, so wenig wusste ich, wer meine Chefin eigentlich war. Was ich wusste, war, dass sie geschieden war, aber ich wusste weder Gründe dafür noch irgendeine Perspektive, die sich für Helena Braun dadurch eröffnen könnte. Emotionales fand hier nicht statt, was ich sehr schade fand und das Arbeitsklima nicht unbedingt sommerlich gestaltete. Hier im Buchladen war immer Herbst, immer war jeder hier auf dem Rückzug in sich hinein, nur wenn Kundenaugen mal freundlich aufblitzten, konnte ein wenig Frühling durch den neonlichtgefluteten Raum schießen.
Die Zeit verstrich mit dem Austausch von Belanglosigkeiten; Frau Braun, Claudia und ich mischten uns in Regale, erklärten Handlungen diverser amerikanischer Unfugsromane, gaben Urlaubsbuchtipps und wickelten Kinderbücher in Kinderbuchgeschenkpapier ein. Und wir grinsten in Gesichter und wogen Münzen in den Händen und lächelten für Geld und Harmonie so falsch es ging, und die Freundlichkeit, so wussten wir doch alle, war nicht unser Arbeitskollege, die Freundlichkeit arbeitete wahrscheinlich beim Militär oder im Schlachthof, hier zumindest nicht, und trotzdem lächelten wir, wahrscheinlich, um diesen Arbeitstag pseudosympathisch zu gestalten.
Das ging ganz gut, und auch dieser Tag verstrich wie seine Vorgänger. Der Scheißkalender war nicht imstande, ein Blatt mal etwas länger als einen Tag bei sich zu behalten. Kein Sekundenzeiger konnte auch nur eine Sekunde stillstehen. Und so verging die Zeit und als geschäftsreicher Tag getarnte Belanglosigkeiten wechselten einander ab. Einen tieferen Sinn konnte ich diesem Verkaufen von Büchern nicht abgewinnen. Es war ein Job, keine Berufung. Um Geschmack ging es hier schon lange nicht mehr. Denn wie sollte eine Arbeit schon schmecken, die einem lediglich eine Miete einspielte, damit man etwas bewohnen konnte, was anderen gehörte? Und man konnte sich versichern, damit, wenn was kaputtgeht an einem selbst oder irgendwo anders, man deswegen nicht sofort verhungern musste. Dafür ging ich täglich an einen Ort, der mehr Unbehagen als Freundlichkeit ausstrahlte. Zwischen den Blöcken aus Arbeit und damit einhergehendem Zeittotschlagen versuchte ich immer noch, so was wie ein Leben zu haben.
Zum Abschied zuckten mir noch einmal die Neonröhren entgegen, die Bücher gingen schlafen, und Claudia und Frau Braun würgten jeweils ein mattes «Bis morgen dann» hervor, was ich jeweils mit einem Lächeln ohne Mehrwert quittierte. Jeder von uns ging in eine andere Richtung davon. Nach Hause. Oder das, was man dafür hält.
***
So vergammelten mir die Tage unter den Händen wie die Gehirnzellen meiner Mutter in ihrem Kopf. Die Stunden trugen mich durch die Sinnlosigkeit meiner Existenz. Dass der Sinn des Lebens nicht darin bestand, seinen Tag mit Arbeit zu füllen, die einen nichts anging, war mir nach kurzer Zeit in diesem kleinen Buchladen ins Verständnis getreten. Aber worauf sollte ich dann meine Ziele richten? Was konnte ich mir wünschen, welches Lebenskonzept befand sich in der Nähe meiner Persönlichkeit? Mein Leben war aber durch meine Mutter und durch meine Arbeit und durch simple Gedankenverstrickmuster derart vollgestellt, dass ich kaum an diesen Problemen, die sich mir wie Hochhäuser in den Weg stellten, vorbeisehen konnte. Dahinter verbarg sich mein kleines Leben, die Eigentlichkeit, aus der ich gemacht war.
Es war Sommer geworden, ein seltsamer Mai und ein ebensolcher Juni trieben die Leute in den Buchladen, um Urlaubslektüre zu erstehen. Danach langweilten wir uns einen skurrilen Juli und einen schweißtreibenden August lang und danach wurde es langsam Herbst, die Bäume verteilten was, verfärbten sich, über die Natur war eine quälende Müdigkeit gefallen, die auch zu meiner wurde.
Ich hatte mir, einfach nur als Zeichen, um meine Struktur
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