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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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wirklich wie ein frustrierter Waldarbeiter, den man irrtümlich in einen falschen Körper gesteckt hatte und der nun, feinmotorisch überfordert, seinem Schaffen nachzugehen gedachte. Nur statt dem Zerlegen von Bäumen war es hier die Aufgabe, pflegebedürftigen Menschen, die in Betten lagen, zu helfen, und ich konnte mir vorstellen, wie es war, von Fraukes groben Händen gewaschen zu werden. Man fühlte sich wie eine Biergartenbank, die an einem Frühlingstag von einer sexuell frustrierten Kellnerin von Vogelkot gereinigt wurde, bevor sie an ihren Platz gerammt wurde.
    Beim Begrüßen bemerkte ich auch, dass Frauke nicht nur von kräftiger Statur war, sondern dass eine Stimme in ihr wohnte, die das Bild der hobbyholzfällenden Pflegekraft noch ergänzte. Irgendwas zwischen Lemmy von Motörhead und dem Geräusch, das Zugbremsen machen, nannte sie ihre Stimme. Unangenehm, aber interessant. Sie fasste mir Distanz durchbrechend und pseudofreundlich an den Unterarm und sagte: «Also, Sie haben Ihre Mutter ja gerade gesehen, ihr Zustand hat sich weiter verschlechtert, sie reagiert nur noch momentweise und die Ernährungssituation ist wirklich besorgniserregend.» Im Vergleich zu Fraukes Ernährungssituation war mir das klar. «Wir denken über enterale Ernährung nach.» Ihre Augen glotzten mich aus tiefen Höhlen mit Nachdruck an. «Enterale Ernährung?», fragte ich vorsichtig und hatte Frauke damit eine Kompetenz verschleudernde Steilvorlage gegeben. «Wir müssen die Nährstoffversorgung Ihrer Mutter gewährleisten, und da sie nur noch selten selbstständig ist und wir das Essenanreichen aus Personalgründen nicht leisten können, empfehlen wir eine sogenannte Ernährungspumpe. Bei Ihrer Mutter wird ein minimaler operativer Eingriff vorgenommen, ambulant versteht sich, und durch einen kleinen Schnitt durch die Bauchdecke wird ein Schlauch direkt in ihren Magen eingeführt, durch den Ihre Mutter problemlos flüssig ernährt wird.» Bei dem Gedanken an diese Prozedur stieg mir Kotze an den Halsrand, und Frauke unterstützte ihre medizinische Ausführung mit den Worten, dass das ja heute ein Routineeingriff sei und ich die Sache mit meinem Vater besprechen solle, der ja als Ehemann so etwas wie der gesetzliche Vertreter meiner nicht mehr entscheidungskompetenten Mutter war. Der solle dann entscheiden. «Essen wird auf Dauer eine Qual für den dementen Menschen», verallgemeinerte dann Frauke den Zustand meiner Mutter, und spätestens da hätte ich ihr auch gerne ein Loch in die Bauchdecke geschnitten und ihr durch einen Schlauch den Magen aufgeblasen, bis sie geplatzt wäre. Ich kannte derlei Bilder, wie sie mir vorschwebten, aus drittklassigen Comics, aber diese Visionen verlangten nach tatsächlicher Erfüllung. Ich wollte Fraukes Reste als Schmierfilm an der Wand sehen, vermied es aber trotzdem, meine aufkeimende Wut gegen diesen Pflegeflummi zu offenbaren, und sagte nur: «Ok, mal überlegen. Muss mich mal informieren.» Das ärgerte Frauke ein wenig und sie unterstrich den Satz: «Sie tun Ihrer Mutter dadurch einen großen Gefallen», mit einer streichelnden Waschlappenhand, die über meinen Unterarm glitt und mir Gänsehaut verursachte. Ihre Haut an der Hand war sehr hart. Ich nickte Frauke zu, als Zeichen, sie verstanden zu haben, aber in diesem Blick lag auch der Wille, mich aus dieser Situation zu verabschieden. Frauke drehte sich wieder um, um in einem Zimmer zu verschwinden.
    Ich wandte mich ebenfalls ab und ging Richtung Treppenhaus. Die Bender brüllte: «... wota, wota äh ...», und ich war heillos überrannt von einer Armee aus Informationen und Gefühlen. Für diese Art von Kampf war ich ein leichtes Opfer. Ich war entmachtet, wie meine Mutter, wie eigentlich alle Menschen von der Vergänglichkeit übernommen werden. Feindliche Übernahme der Menschen seitens der Vergänglichkeit.
    Im Eingangsbereich von St. Anna war nicht so viel los wie an den Wochenenden. Auch Frau Overberg war nicht da, sondern ein misanthropisch dreinblickender Zivildienstleistender, der seinen gelangweilten Blick durch den Raum gleiten ließ, als suchte er vergeblich nach Rückständen von Leben darin. Neben der Anmeldung saß auf einer Holzbank ein alter Mann mit einem braunen Cordhut. Er atmete wie eine Schnappschildkröte, und ich dachte, wie schlimm muss das sein, wenn die ganze Atmosphäre voller Atemluft ist, man selbst aber außerstande ist, diese für sich zu nutzen. Sterben geht so. Der Schildkrötenmann guckte mich aus

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