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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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verwässerten Augen an, als wusste er, was sich hinter der unbekannten Wand namens Sterben abspielte. Sein faltiges Gesicht verformte sich zu einer Art Lächeln, das ich aber nicht erwidern konnte. Er hatte sein eingespeicheltes Oberkiefergebiss in der zitternden linken Hand und versuchte, die Leichtigkeit des Atmens wiederzufinden. Vergebens schnappte er schildkrötengleich durch den Raum, der Versuch zu atmen sah aus wie der Stress, den ich empfand, wenn ich die Leichtigkeit von Gedanken suchte, aber nur Belastung fand.
    Vor dem Gebäude rauchte ich schnell zwei Zigaretten hintereinander weg und der Geschmack im Mund wurde ein vertrauter. Ich ertrug diese regelmäßige Vergegenwärtigung des Sterbens nicht wirklich gut und doch faszinierte mich dieser Aspekt des menschlichen Lebens kurz vor der konkreten Ziellinie. Das Auf- und auch das Verblühen waren zwei Punkte am Menschsein, die große Symbole waren. Ich hoffte darauf, dass das Verblühen nicht wehtat, dass da kein Körperschmerz in meiner Mutter war, sondern nur ein grauer Vorhang, hinter dem sie sich bei Bedarf verstecken konnte. Das wünschte ich ihr von Herzen.
    Ich ging einige Schritte Richtung Busbahnhof. Ich wusste nicht direkt, was mein nächstes Ziel sein sollte, und irgendwie fand ich es ungut, jetzt allein zu Hause zu sein. Ich entschied mich dazu, meinen Vater zu besuchen.
    ***
    Zwischen zu wenig und zu viel Liebe bin ich hier aufgewachsen. Immer irgendwie unpassend, immer gerade der Tetrisblock, der nicht benötigt wird. Ein dünnes Kind mit dichten Gedankenschemen war ich. Eine Kleinigkeit zu befindlichkeitsfixiert.
    Nicht Tom Waits öffnete die Tür, sondern ein Mensch ohne Musikgeschmack und ohne Feingefühl für Stil. Der, aus dessen Samen ich gemacht bin, der, der mich gepflanzt hat, der Architekt meiner Genetik. Trübtassiges Grau auf schütterem Haar war das Erste, was ich von ihm wahrnahm, und dann begannen Zellen zu überlegen und erkannten Eigenfleisch; und er, der nicht Tom Waits war, aber den ich mir als Tom Waits wünschte, er lächelte und eine kleine Welt wurde für Bruchteile von Sekunden heil und rund, tickte aber etwas haltlos daher, aber immerhin, es tickte. Wir waren die salzlose Suppe im Obdachlosenwohnheim Leben.
    Er wirkte ungepflegt. Vernachlässigte Rasur und spröde Haut. Er sah aus wie der Künstler, der er nicht war. Feuchte blaue Augen blickten mich durch eine schon in den 80er-Jahren unmoderne Hornbrille an. «Ach Junge, schön, dass du mal vorbeischaust.» «Hallo Papa.» Wir gaben uns die Hand wie Roboter, die programmiert darauf waren, einen guten Eindruck zu hinterlassen, nicht wie Verwandte. Die früher spürbaren genetischen Verbindungsstränge waren brüchig geworden mit der Zeit. Wir sahen uns ja relativ selten, nur wenn ich vorbeikam oder anrief, kam Kontakt überhaupt zustande. Aber es reichte uns beiden.
    Er humpelte vor mir ins Wohnzimmer, es sah nach Schmerzen aus und nach Schutzhaltung für einen krummgearbeiteten Körper, und eigentlich kannte ich ihn nur in dieser Gangart, humpelnd, schleifend, zögernd, irgendwas war ja immer. Er ließ sich auf das Sofa fallen, fallen wie einer, der aufgegeben hatte, wie einer, der genau wusste, dass da ein Sofa stand und einem den Arsch vor Arschbruch rettete. Er ruckelte an seiner Brille, lächelte, strahlte halbe Väterlichkeit und halben Verrat aus und räusperte sich in seine Faust hinein.
    Mein Vater hatte in seinem Leben aus gottesfürchtigen und moralischen Gründen immer alles gegeben, was er an Körperkraft hatte, um seine Familie finanziell zu ertragen. Das definierte er immer selbst als seine Funktion, obwohl er nie darüber sprach. Aber man sah seine Augen funkeln.
    Jedoch war dies kein komplettes Bild von meinem Vater. Das Gemälde, das er war, ging über diesen schnöden Rahmen hinaus. Der Kampf, wie gesagt, der Kampf war sein Ding, vorne an der Front der Arbeitnehmer zu stehen und sich für die gute Sache, die sich Familie nannte, ausbeuten zu lassen. Aber innerhalb dieser familiären Struktur war er stets derjenige, der auf dem Rückzug vor den anderen Beteiligten war. Ich erkannte schon in früher Kindheit seine Mangelliebe zu meiner Mutter und ihr Leiden unter dieser Tatsache. Da ich ein mutterfixiertes Kleinkind war, distanzierte sich sein Herz auch spürbar von mir. Also, nicht dass man dies gesehen hätte, er verhielt sich wie ein Vater, der seinem Kind nur Gutes wollte, der für die Chancen seines Kindes kämpfte und mir das auch sagte. Aber was

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