Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Denken hinausging hinein in pures Empfinden, in puren Herzschlag. «So muss eine Liebe sein», beendete er seine Ausführung, und vor meinem geistigen Auge hatte er seine Traumfrau hingestellt, und ich war angerührt von seiner Liebesfähigkeit. Meine hatte ich nämlich auf dem Weg meines kleinen Lebens eingebüßt, sie befand sich irgendwo, wo ich nicht einfach so hingelangen konnte. Irgendwo hatte ich sie verloren, die Liebesfähigkeit, hatte sie wohl an irgendeiner Garderobe hängen lassen, auf irgendeiner Party vergessen, wie einen Regenschirm oder eine Jacke. Die Realität meiner Liebe sauste an mir vorbei und alles sah aus wie der Blick aus dem Fenster eines fahrenden ICEs. Wo sich Grün und Blau vermischten zu einem Reiz überflutenden Gesamtspektakel. Befindlichkeitsdesign durch Alkohol und unsere Kunstwerke sind die Schönstmöglichen. Und doch so sensibel zerbrechlich. Vielleicht gerade auch deswegen ...
Wir tranken weiter. Noch eine Flasche Weißwein, der mild und perlig meine trunkene Kehle hinabstolperte. Der Wein selbst verhielt sich in mir wie ein trunkener Hooligan, der durch eine aufgetretene Tür in mein Bewusstsein trat. Kais Wahrnehmung war auch schon ziemlich lädiert vom Alkoholgenuss. Unsere Augen wurden kleiner, aber wir waren maßlos froh, uns an diesem Ort so intensiv begegnet zu sein. Wir pusteten weiter Rauchschwaden durch Kais Rauchschwaden gewohntes Wohnzimmer. Das Klavier stand da, stand mitten im Raum und wartete auf irgendwas, vielleicht auf die Berührung durch musikalisch talentierte Hände oder auf eine Axt, die es endlich zerteilte, weil man die Intensität des Lebens, der Liebe und der Kunst einfach nicht mehr aushielt. Das restliche Inventar stand idiotengleich um das Klavier herum, war nur klein, nicht mit Emotionen belegt. Aber das Klavier war der Gott aller Möbelstücke. Nein, es war kein Möbelstück, es war ein Ding mit Seele, wurde mir bewusst. Schon oft hatte ich aus ihm gepresste und von Kai offenbarte Emotionen bis in meine Wohnung schwingen gehört. Manchmal an diesem trunkseligen Abend sah ich Kai sein Instrument anblicken, und zwar in der Art, wie ein Vater sein Kind anblickte, wenn es gerade gestürzt war und nun umfangender, tröstender Arme bedurfte. Ich glaubte, eine Art Hassliebe in seinen Augen zu erkennen, die ungesunde Kombination aus unmittelbarer Genialität und dem Zwang, diese auch zu benutzen. Darin konnte auch immer eine Tragik wohnen, wurde mir bewusst.
Es war garantiert schon drei Uhr, als ich mich aus zwanghaften Vernunftsgründen (Sklaverei der Lohnarbeit) dazu entschloss, mein Bett aufzusuchen. Ich bezweifelte noch stark meine morgige Arbeitsfähigkeit, und Kai, der so frei war, wie ein unbeschriebenes Blatt eben leer war, lachte laut durch seinen Raum, und wir rauchten noch eine Schweigezigarette. Ich ging ungern, dieser Abend hatte mich wieder an die Existenz großartiger Gedanken und Schöngeistigkeit mit gleichzeitigem Intellekt glauben lassen.
Als ich dann endlich in meinem Bett lag, war mir schwindelig wegen der Kombination aus Gedanken beschwerenden Getränken und Netzhaut trübendem Rauch. Der Raum drehte sich um mich, Möbelstücke tanzten an mir vorbei und zwischendrin Kais Augen und auch seine Worte. Aus der Nachbarwohnung hörte ich traurige Klaviermusik, die mich aber beruhigte, so sehr beruhigte, dass sich eine imaginäre Hand unaufdringlich auf meine Stirn legte, die alles Schlaf störende Übel von mir runterwischte. Mit einem gezielten und vor allem effektiven Handstreich. Und das Übel lag dann vor mir auf dem Boden, unfähig von mir Besitz zu ergreifen, ferngehalten von Klaviermusik, die mich bestürzte, aber mich auch beschützte. Ich schlief steingleich ein, umwoben von diesen wundervollen Klängen, um am nächsten Morgen schmerzfrei zu erwachen. Da lag etwas auf mir, was ich lange nicht beim Aufwachen auf mir gefunden hatte, und es war: ein Lächeln, das Lächeln der Möglichkeit des Fluchtversuchs aus dem Wahnsinn.
Ich war nun regelmäßig Kais Gast. Zweimal die Woche mindestens wurde aus zwei Individualisten ein Team, das nicht zurückhaltend mit der Weitergabe und der Veröffentlichung von gelebter Emotionalität war. Aber immer wieder hörte ich auch weibliche Stimmen in sexueller Erregung aus seiner Wohnung herüberschallen, das waren dann die Tage, die ich bei mir verbrachte, alte Platten hörte, stupide Dinge im Fernsehen verfolgte und irgendwelche uninteressanten Bücher las, von denen ich mir mehr erhoffte, als
Weitere Kostenlose Bücher