Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
mich um. Bücher, Platten, Dinge, die Bekleidung, aber auch einfach nur Putztücher hätten sein können, Müll hier, Großartigkeiten kultureller Prägung dort. In der Mitte dieses Raumes präsentierte sich in durchaus auch in der Dunkelheit erkennbarem polierten Schwarz ein Konzertflügel, der in dieser leicht gammeligen Behausung aussah wie Schloss Neuschwanstein, das man mitten in peruanischen Slums neu errichtet hatte. Die Szenerie wirkte, als habe die fettig flutschende Kunst von Joseph Beuys das goldbepinselte Handwerk eines Gustav Klimt gefressen und eben diesen Raum hier ausgeschissen. Die erhabene Schönheit im abgrundtiefen Elend, das stellte dieses Klavier, stellte nahezu der ganze Raum dar.
Auf der Fensterbank flackerten Kerzen, und rotes Wachs tropfte auf den Holzfußboden und baute dort ebenfalls kleine Gebäude. Zufallskunstwerke, wie sie nur in einem solchen Ambiente entstehen konnten. Kai kramte in der Küche, ich hörte eine Kühlschranktür, die auf- und wieder zuschlug und dabei ein Geräusch machte wie die synchronisierten Faust-trift-Schädeldecke-Schläge aus Bud-Spencer-Filmen.
Diese Wohnung passte zu Kai. Eine Mischung aus Dönerbuden-Backstage-Gammelfleisch-Lagerraum und königlichem Palastfeeling tat sich auf, und ich ließ mich in einen Sessel sinken. «Ey, pass auf, da liegen noch Noten rum», sagte Kai, der mit zwei Bierflaschen in den Händen in das Wohnzimmer kam, und ich fummelte unter meinem Arsch zwei zerknitterte A4-Zettel hervor, auf denen einige wirre Zeichen vermerkt waren. Ich reichte sie Kai, der lächelte und mir im Gegenzug eine kalte, bereits geöffnete grüne Flasche Bier in die Hand drückte. «Reinhaun», trinkspruchte er und trank die halbe Flasche ohne abzusetzen aus. Er rülpste laut durch die durstige Stille und bemerkte wohl meine Unsicherheit in seinen Gefilden. «Wenn du dich hier blöd fühlst, also, wir können auch zu dir rübergehen ...» «Nee, passt schon, alles cool hier, brauch nur immer ein bisschen, um mich an neue Umgebungen zu gewöhnen.» Ich trank und sah mich um. Kai war wieder aufgesprungen, um in seinen Vinylplatten zu wühlen, die in ungeordneten Kisten auf dem Holzboden standen. Er kramte einige Platten hervor. «Will dir mal was vorspielen», sagte er so vor sich hin und legte eine der schwarzen Scheiben auf den Plattenspieler, und nach einem nostalgischen Knistern fluteten harmonische Streicher das Bild der Musik und eine massive Pauke taktete das und dann kam ein Piano rein und Kai rief: «Das bin ich, Alter, meine alte Band, kacke, war’n wir geil ...» Er freute sich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal seine Schuhe selbst zugebunden hat und die Erwartung von Mutterstolz durch Blicke und Kopfstreicheln erfüllt bekam. «Schöne Harmonien», ergänzte ich, obwohl ich nicht wusste, was Harmonien eigentlich waren, weder in irgendeiner Art von musikalischen Arrangements noch in meinem Restleben.
Plötzlich schmeckte auch das Bier besonders gut und nach vier weiteren und endlos vielen Kippen wusste ich, dass Kai klassisches Klavier studierte, an einer postmodernen Befindlichkeitsoper arbeitete und, was ich ja bereits geahnt hatte, gepflegten und ungepflegten sexuellen Kontakt zu allerlei weiblichen Schönheiten pflegte. Das mit den diversen Frauenbekanntschaften klang für mich wie eine ohne Arroganz oder Selbstüberschätzung gelebte Selbstverständlichkeit. Kai war fürwahr kein schlechter Mensch, der seine Geliebten auszunutzen pflegte, sondern er war einer dieser seltenen Männer, denen halt einfach wegen ihres innewohnenden musischen Genies und ihrer speziellen Art speziell gut auszusehen sexuelle Avancen gemacht wurden. Kai legte nicht viel wert auf seine optische Erscheinung und trotzdem war er einfach schön. Seine Bewegungen waren grazil und in jeder Geste, die er in den Raum warf, konnte man den edlen Pianisten erkennen, der er eigentlich war; er, der er eigentlich nicht über sich reden wollte, sondern einfach nur Klavier spielen wollte. Der geniale Simplicissimus. Kai war jemand, der den Zwischenraum zwischen intellektuellem Wahnsinnigen und postmodernem Bohéme gut auszufüllen vermochte.
Des Weiteren gab er Klavierunterricht, aber nur für Frauen mit kleinen Händen, wie er betonte, und spielte noch in einer Free-Jazz-Band. Sein Musikgeschmack wie auch sein Musikwissen waren quasi unbegrenzt, was mich sehr beeindruckte. «Ernst zu nehmende Rockbands sollten nicht Itchy Poopskid heißen und sich auch nicht so anhören»,
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