Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
sagte er irgendwann, und das Bier war alle und der Weißwein rundete die Sache ab, war aber auch schon egal, die Geschmacksnerven waren mit kulturellen Begebenheiten beschäftigt. «Ja», ergänzte ich das Gespräch über miese Rockbands, «und Mando-Diao-Mädchen sind einfach nur mittelmäßig im Bett.» Kai lachte. Ich grinste und war endlos froh, hier gelandet zu sein. Im Hintergrund lief eine ABBA-Platte. Irgendjemand sang: «... the winner takes it all ...» Die Unbegreiflichkeit von Popmusik, und wir fühlten uns wie gesüßte Erdbeeren in einer Welt aus Zuckerwatte.
Ich rauchte. Kai rauchte. Wir hüllten einander in künstlichen Nebel und fühlten uns so elegant wie charmant dabei. Anderthalb weitere Flaschen Wein vergingen und die Lustigkeit wurde von einer heimtückischen Melancholie abgelöst, und nach zwei weiteren verglimmenden Zigaretten und einer grandiosen jazzigen Raumbeschallung erzählte ich ihm von meiner Mutter und der Intensität, die ihre Krankheit in mein Leben trug. Ich erzählte Kai von der Aufdringlichkeit und Daueranwesenheit der Vergänglichkeit, und es war eine Wohltat, einfach zu reden und Gefühl an eine andere Person treten zu lassen. Das war irgendwie lange her, dass ich dergleichen zuletzt getan hatte. Aber die unwiederbringbaren Gehirnzellen meiner Mutter und die emotionale Widerstandsfähigkeit meines Vaters gepaart mit der Tristesse meiner täglichen Arbeit waren schon graue, fiese und vor allem raumfordernde Monumente. Diese Denkmäler zeigte ich Kai, ich zeigte ihm ein kleines, wehrloses Leben, das meines war; der Alkohol und die anmutende Lockerheit der Situation ließen meine Gedanken entgleisen, aber das war gut so, entgleiste Gedanken artikulieren zu können, denn ich hatte das Gefühl, dass diese verstanden wurden.
Irgendwann endete meine Ausführung mein Leben betreffend und danach kam eine leise Stille, die in unsere Köpfe flog, nicht unangenehm, sondern einer Wohltat gleich. Der nasse Waschlappen auf der Stirn des fiebernden Jungen. Dass man es mit guten Menschen zu tun hatte, merkte man erst, wenn man gemeinsam erfüllend schweigen konnte.
Kai erzählte noch, wie er sich alles an musikalischer Vielfalt, was sich in ihm regte, selbst draufgeschafft hatte. Seine bereits verstorbenen Eltern wären beide typische Vertreter des Proletariats gewesen, ähnlich meinen eigenen Eltern. Förderung im Bereich Musik hatte nie stattgefunden, aber Kai erzählte, wie ihn Spaziergänge, die an einem bestimmten Instrumentenladen vorbeigeführt hatten, manisch elektrisiert und er jedes Mal diesen Laden auch hatte betreten müssen. «Herr Weber, so hieß der Typ, dem der Laden gehörte, das war voll der schrumpelige Alte, aber der hat mich seine Klaviere anfassen lassen, und durch anfängliches Klimpern ist dann irgendwann Verständnis für Noten und dann das Darüberhinausdenken entstanden», beschrieb Kai die Anfänge seiner Genieentfaltung. Dann sei «alles Schmetterling geworden», so Kais wundervolle Metapher für die Entpuppung seines Talents. Nach dem Abitur dann das Klavierstudium und die Teilhabe an diversen musikalischen Projekten.
Kai schenkte Wein nach und erzählte mir von einem Mädchen namens Johanna, das ihm vor einigen Jahren nicht nur das Herz gebrochen, sondern mehr damit gemacht hatte. Sie hatte es ihm amputiert, erfrieren lassen, es wiederbelebt, es zerschnitten, es zusammengenäht und reanimiert, es kaputt getreten und dann erneut wiederbelebt und irgendwann auf einem Haufen Fremdmitleid verbrannt. Er litt immer noch unter dieser Frau, so sagte er, dieser Unerreichbaren, ihn zutiefst Anrührenden. Beim Erzählen bekam er kleine rote Augen, aber es war ja auch schon spät und der Weißwein wirklich lecker. Johanna sei die Frau, für die er sterben würde, sagte er in einem Ton, der mir selbst in unserem angetrunkenen Zustand die pure Ernsthaftigkeit seiner Worte vermittelte. Andere Frauen, so Kai, hätten nicht den Hauch einer Möglichkeit, in seine Welt zu treten, solange es diese Johanna in selbiger noch geben würde. Sie war wohl wegen eines anderen gegangen und hatte ihn lange hingehalten, ihn leiden lassen, am ausgestreckten Mädchenarm verhungern, und Kai hatte eine Leidensfähigkeit, die er sich selbst kaum zutraute. Alle Frauen, die ihm heute begegneten, maß er an ihr, und keine wurde ihr auch nur im geringsten gerecht. Kai geriet ins Schwärmen, erzählte von durchgefickten Nächten an abgelegenen Stränden, von einer Philosophie, die über menschliches
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